Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie. es schütze auch den Keim des Willens. Ganz abgesehen vonden Fällen, wo diese Annahme auf eine reine Fiction hinaus- laufen würde, wie z. B. bei einem Kretin, einem unheilbar Wahnsinnigen, so würde jene Rücksicht auf den künftigen Eintritt der Willensfähigkeit zwar allenfalls den Schutz der nackten Per- sönlichkeit, nicht aber die Zulassung des Erwerbs concreter Ver- mögensrechte z. B. einer Erbschaft zu rechtfertigen vermögen, in der letzteren Beziehung dürfte vielmehr als äußerste Conces- sion nur die Vertagung des Erwerbs bis zur erlangten Fähigkeit eintreten können. Die einzige consequente Abweisung jenes Einwandes besteht in der Antwort: die Anerkennung von Rech- ten in den Händen willensunfähiger Personen sei lediglich Sache positiver Satzung, und in der That hat es einem neuern Rechts- philosophen nicht an dem Muth gefehlt, dieselbe zu ertheilen und damit zu constatiren, daß die Philosophie auf dem angege- benen Wege nicht dazu gelangen kann, die reale Welt zu be- greifen.440) Und doch, sollte man meinen, wäre dies so unendlich leicht. 440) Ad. Helfferich. Die Kategorien des Rechts S. 8: "Da, wo der Wille als solcher ruht, existirt kein wirkliches Recht .. und wenn das Gesetz den Rechtswillen (--?--) schon beim Kinde u. s. w. schützt, so geschieht es nicht, weil sie ein Recht darauf haben, sondern weil das Gesetz die Perso- nencapacität beliebig (--?--) bestimmen und abändern kann." Dahin also führt es, wenn man Recht und "Rechtswillen" identificirt! Kinder, Wahn- finnige wären demnach eigentlich rechtlos, und wenn man sie nicht ungestraft tödten kann, was doch, wenn sie überall kein Recht, folglich auch nicht auf ihr Leben haben, erlaubt sein müßte, so beruht das bloß auf der Willkür des Gesetzgebers, der "beliebig die Personencapacität bestimmt und abän- dert"! Nach Lassalle ist das ganze Erbrecht nichts als eine Uebertragung des Willens auf den Erben -- höchst einleuchtend bei der Beerbung eines Wahnsinnigen durch ein Kind! 441) Es ist ein großes Verdienst der Krauseschen Philosophie und
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie. es ſchütze auch den Keim des Willens. Ganz abgeſehen vonden Fällen, wo dieſe Annahme auf eine reine Fiction hinaus- laufen würde, wie z. B. bei einem Kretin, einem unheilbar Wahnſinnigen, ſo würde jene Rückſicht auf den künftigen Eintritt der Willensfähigkeit zwar allenfalls den Schutz der nackten Per- ſönlichkeit, nicht aber die Zulaſſung des Erwerbs concreter Ver- mögensrechte z. B. einer Erbſchaft zu rechtfertigen vermögen, in der letzteren Beziehung dürfte vielmehr als äußerſte Conceſ- ſion nur die Vertagung des Erwerbs bis zur erlangten Fähigkeit eintreten können. Die einzige conſequente Abweiſung jenes Einwandes beſteht in der Antwort: die Anerkennung von Rech- ten in den Händen willensunfähiger Perſonen ſei lediglich Sache poſitiver Satzung, und in der That hat es einem neuern Rechts- philoſophen nicht an dem Muth gefehlt, dieſelbe zu ertheilen und damit zu conſtatiren, daß die Philoſophie auf dem angege- benen Wege nicht dazu gelangen kann, die reale Welt zu be- greifen.440) Und doch, ſollte man meinen, wäre dies ſo unendlich leicht. 440) Ad. Helfferich. Die Kategorien des Rechts S. 8: „Da, wo der Wille als ſolcher ruht, exiſtirt kein wirkliches Recht .. und wenn das Geſetz den Rechtswillen (—?—) ſchon beim Kinde u. ſ. w. ſchützt, ſo geſchieht es nicht, weil ſie ein Recht darauf haben, ſondern weil das Geſetz die Perſo- nencapacität beliebig (—?—) beſtimmen und abändern kann.“ Dahin alſo führt es, wenn man Recht und „Rechtswillen“ identificirt! Kinder, Wahn- finnige wären demnach eigentlich rechtlos, und wenn man ſie nicht ungeſtraft tödten kann, was doch, wenn ſie überall kein Recht, folglich auch nicht auf ihr Leben haben, erlaubt ſein müßte, ſo beruht das bloß auf der Willkür des Geſetzgebers, der „beliebig die Perſonencapacität beſtimmt und abän- dert“! Nach Laſſalle iſt das ganze Erbrecht nichts als eine Uebertragung des Willens auf den Erben — höchſt einleuchtend bei der Beerbung eines Wahnſinnigen durch ein Kind! 441) Es iſt ein großes Verdienſt der Krauſeſchen Philoſophie und
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0328" n="312"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie.</fw><lb/> es ſchütze auch den Keim des Willens. Ganz abgeſehen von<lb/> den Fällen, wo dieſe Annahme auf eine reine Fiction hinaus-<lb/> laufen würde, wie z. B. bei einem Kretin, einem unheilbar<lb/> Wahnſinnigen, ſo würde jene Rückſicht auf den künftigen Eintritt<lb/> der Willensfähigkeit zwar allenfalls den Schutz der nackten Per-<lb/> ſönlichkeit, nicht aber die Zulaſſung des Erwerbs concreter Ver-<lb/> mögensrechte z. B. einer Erbſchaft zu rechtfertigen vermögen,<lb/> in der letzteren Beziehung dürfte vielmehr als äußerſte Conceſ-<lb/> ſion nur die Vertagung des Erwerbs bis zur erlangten Fähigkeit<lb/> eintreten können. Die einzige conſequente Abweiſung jenes<lb/> Einwandes beſteht in der Antwort: die Anerkennung von Rech-<lb/> ten in den Händen willensunfähiger Perſonen ſei lediglich Sache<lb/> poſitiver Satzung, und in der That hat es einem neuern Rechts-<lb/> philoſophen nicht an dem Muth gefehlt, dieſelbe zu ertheilen<lb/> und damit zu conſtatiren, daß die Philoſophie auf dem angege-<lb/> benen Wege nicht dazu gelangen kann, die reale Welt zu be-<lb/> greifen.<note place="foot" n="440)">Ad. <hi rendition="#g">Helfferich</hi>. Die Kategorien des Rechts S. 8: „Da, wo der<lb/> Wille als ſolcher ruht, exiſtirt kein wirkliches Recht .. und wenn das Geſetz<lb/> den <hi rendition="#g">Rechtswillen</hi> (—?—) ſchon beim Kinde u. ſ. w. ſchützt, ſo geſchieht<lb/> es nicht, weil ſie ein Recht darauf haben, ſondern weil das Geſetz die Perſo-<lb/> nencapacität beliebig (—?—) beſtimmen und abändern kann.“ Dahin alſo<lb/> führt es, wenn man Recht und „Rechtswillen“ identificirt! Kinder, Wahn-<lb/> finnige wären demnach eigentlich rechtlos, und wenn man ſie nicht ungeſtraft<lb/> tödten kann, was doch, wenn ſie überall kein <hi rendition="#g">Recht</hi>, folglich auch nicht auf<lb/> ihr <hi rendition="#g">Leben</hi> haben, erlaubt ſein müßte, ſo beruht das bloß auf der Willkür<lb/> des Geſetzgebers, der „<hi rendition="#g">beliebig</hi> die Perſonencapacität beſtimmt und abän-<lb/> dert“! Nach <hi rendition="#g">Laſſalle</hi> iſt das ganze Erbrecht nichts als eine Uebertragung<lb/> des <hi rendition="#g">Willens</hi> auf den Erben — höchſt einleuchtend bei der Beerbung eines<lb/> Wahnſinnigen durch ein Kind!</note></p><lb/> <p>Und doch, ſollte man meinen, wäre dies ſo unendlich leicht.<lb/> Nicht eines Künftigen, ſondern eines Gegenwärtigen wegen<lb/> haben jene Perſonen ihr Recht, nicht wegen willkürlicher Laune<lb/> des Geſetzgebers, ſondern in Anerkennung des Anſpruchs, den<lb/> jedes menſchliche Weſen auf ſeiner Stirn trägt.<note xml:id="seg2pn_28_1" next="#seg2pn_28_2" place="foot" n="441)">Es iſt ein großes Verdienſt der <hi rendition="#g">Krauſeſchen</hi> Philoſophie und</note> Das Be-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [312/0328]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie.
es ſchütze auch den Keim des Willens. Ganz abgeſehen von
den Fällen, wo dieſe Annahme auf eine reine Fiction hinaus-
laufen würde, wie z. B. bei einem Kretin, einem unheilbar
Wahnſinnigen, ſo würde jene Rückſicht auf den künftigen Eintritt
der Willensfähigkeit zwar allenfalls den Schutz der nackten Per-
ſönlichkeit, nicht aber die Zulaſſung des Erwerbs concreter Ver-
mögensrechte z. B. einer Erbſchaft zu rechtfertigen vermögen,
in der letzteren Beziehung dürfte vielmehr als äußerſte Conceſ-
ſion nur die Vertagung des Erwerbs bis zur erlangten Fähigkeit
eintreten können. Die einzige conſequente Abweiſung jenes
Einwandes beſteht in der Antwort: die Anerkennung von Rech-
ten in den Händen willensunfähiger Perſonen ſei lediglich Sache
poſitiver Satzung, und in der That hat es einem neuern Rechts-
philoſophen nicht an dem Muth gefehlt, dieſelbe zu ertheilen
und damit zu conſtatiren, daß die Philoſophie auf dem angege-
benen Wege nicht dazu gelangen kann, die reale Welt zu be-
greifen. 440)
Und doch, ſollte man meinen, wäre dies ſo unendlich leicht.
Nicht eines Künftigen, ſondern eines Gegenwärtigen wegen
haben jene Perſonen ihr Recht, nicht wegen willkürlicher Laune
des Geſetzgebers, ſondern in Anerkennung des Anſpruchs, den
jedes menſchliche Weſen auf ſeiner Stirn trägt. 441) Das Be-
440) Ad. Helfferich. Die Kategorien des Rechts S. 8: „Da, wo der
Wille als ſolcher ruht, exiſtirt kein wirkliches Recht .. und wenn das Geſetz
den Rechtswillen (—?—) ſchon beim Kinde u. ſ. w. ſchützt, ſo geſchieht
es nicht, weil ſie ein Recht darauf haben, ſondern weil das Geſetz die Perſo-
nencapacität beliebig (—?—) beſtimmen und abändern kann.“ Dahin alſo
führt es, wenn man Recht und „Rechtswillen“ identificirt! Kinder, Wahn-
finnige wären demnach eigentlich rechtlos, und wenn man ſie nicht ungeſtraft
tödten kann, was doch, wenn ſie überall kein Recht, folglich auch nicht auf
ihr Leben haben, erlaubt ſein müßte, ſo beruht das bloß auf der Willkür
des Geſetzgebers, der „beliebig die Perſonencapacität beſtimmt und abän-
dert“! Nach Laſſalle iſt das ganze Erbrecht nichts als eine Uebertragung
des Willens auf den Erben — höchſt einleuchtend bei der Beerbung eines
Wahnſinnigen durch ein Kind!
441) Es iſt ein großes Verdienſt der Krauſeſchen Philoſophie und
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |