Johann Stilling war nun Schöffe und Landmesser; Wilhelm Schulmeister zu Tiefenbach; Mariechen Magd bei ihrer Schwester Elisabeth; die andern Töch- ter waren aus dem Hause verbeirathet, und Heinrich ging nach Florenburg in die lateinische Schule.
Wilhelm hatte eine Kammer in Stilling's Haus, auf derselben stand ein Bett, worin er mit seinem Sohn schlief, und am Fenster war ein Tisch mit dem Schneidergeräthe; denn sobald als er von der Schule kam, arbeitete er an seinem Hand- werk. Des Morgens früh nahm Heinrich seinen Schulsack, worin nebst den nöthigen Schulbüchern und einem Butterbrod für den Mittag, auch die Historia von den vier Haymonskin- dern oder sonst ein ähnliches Buch nebst einer Hirtenflöte sich befanden; sobald er dann gefrühstückt hatte, machte er sich auf den Weg, und wenn er hinaus vor's Dorf kam, so nahm er sein Buch heraus und las während dem Gehen; oder er trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf seiner Flöte. Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht schwer, und er behielt dabei Zeit genug, alte Geschichten zu lesen. Des Sommers ging er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur Samstags Abend, und ging des Montags Morgen wieder fort; dieses währte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des Sommers über viel zu Haus und half seinem Vater am Schnei- derhandwerk oder er machte Knöpfe.
Der Weg nach Florenburg und die Schule selber mach- ten ihm manche vergnügte Stunden. Der Schulmeister war ein sanfter, vernünftiger Mann und wußte zu geben und zu nehmen. Des Nachmittags nach dem Essen sammelte Stil- ling einen Haufen Kinder um sich her, ging mit ihnen hin- aus aufs Feld oder an einen Bach, und dann erzählte er ihnen allerhand schöne, empfindsame Historien, und wenn er sich ausgeleert hatte, so mußten Andere erzählen. Einsmals wa- ren ihrer auch Etliche zusammen auf einer Wiese, es fand sich ein Knabe herzu, dieser fing an: Hört, Kinder! ich will euch was erzählen: "Neben uns wohnt der alte Frühling, ihr "wißt, wie er daher geht und so an seinem Stock zittert: er "hat keine Zähne mehr, auch hört und sieht er nicht viel. Wenn
Johann Stilling war nun Schoͤffe und Landmeſſer; Wilhelm Schulmeiſter zu Tiefenbach; Mariechen Magd bei ihrer Schweſter Eliſabeth; die andern Toͤch- ter waren aus dem Hauſe verbeirathet, und Heinrich ging nach Florenburg in die lateiniſche Schule.
Wilhelm hatte eine Kammer in Stilling’s Haus, auf derſelben ſtand ein Bett, worin er mit ſeinem Sohn ſchlief, und am Fenſter war ein Tiſch mit dem Schneidergeraͤthe; denn ſobald als er von der Schule kam, arbeitete er an ſeinem Hand- werk. Des Morgens fruͤh nahm Heinrich ſeinen Schulſack, worin nebſt den noͤthigen Schulbuͤchern und einem Butterbrod fuͤr den Mittag, auch die Hiſtoria von den vier Haymonskin- dern oder ſonſt ein aͤhnliches Buch nebſt einer Hirtenfloͤte ſich befanden; ſobald er dann gefruͤhſtuͤckt hatte, machte er ſich auf den Weg, und wenn er hinaus vor’s Dorf kam, ſo nahm er ſein Buch heraus und las waͤhrend dem Gehen; oder er trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf ſeiner Floͤte. Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht ſchwer, und er behielt dabei Zeit genug, alte Geſchichten zu leſen. Des Sommers ging er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur Samſtags Abend, und ging des Montags Morgen wieder fort; dieſes waͤhrte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des Sommers uͤber viel zu Haus und half ſeinem Vater am Schnei- derhandwerk oder er machte Knoͤpfe.
Der Weg nach Florenburg und die Schule ſelber mach- ten ihm manche vergnuͤgte Stunden. Der Schulmeiſter war ein ſanfter, vernuͤnftiger Mann und wußte zu geben und zu nehmen. Des Nachmittags nach dem Eſſen ſammelte Stil- ling einen Haufen Kinder um ſich her, ging mit ihnen hin- aus aufs Feld oder an einen Bach, und dann erzaͤhlte er ihnen allerhand ſchoͤne, empfindſame Hiſtorien, und wenn er ſich ausgeleert hatte, ſo mußten Andere erzaͤhlen. Einsmals wa- ren ihrer auch Etliche zuſammen auf einer Wieſe, es fand ſich ein Knabe herzu, dieſer fing an: Hoͤrt, Kinder! ich will euch was erzaͤhlen: „Neben uns wohnt der alte Fruͤhling, ihr „wißt, wie er daher geht und ſo an ſeinem Stock zittert: er „hat keine Zaͤhne mehr, auch hoͤrt und ſieht er nicht viel. Wenn
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Johann Stilling war nun Schoͤffe und Landmeſſer;
Wilhelm Schulmeiſter zu Tiefenbach; Mariechen
Magd bei ihrer Schweſter Eliſabeth; die andern Toͤch-
ter waren aus dem Hauſe verbeirathet, und Heinrich ging
nach Florenburg in die lateiniſche Schule.
Wilhelm hatte eine Kammer in Stilling’s Haus, auf
derſelben ſtand ein Bett, worin er mit ſeinem Sohn ſchlief,
und am Fenſter war ein Tiſch mit dem Schneidergeraͤthe; denn
ſobald als er von der Schule kam, arbeitete er an ſeinem Hand-
werk. Des Morgens fruͤh nahm Heinrich ſeinen Schulſack,
worin nebſt den noͤthigen Schulbuͤchern und einem Butterbrod
fuͤr den Mittag, auch die Hiſtoria von den vier Haymonskin-
dern oder ſonſt ein aͤhnliches Buch nebſt einer Hirtenfloͤte ſich
befanden; ſobald er dann gefruͤhſtuͤckt hatte, machte er ſich
auf den Weg, und wenn er hinaus vor’s Dorf kam, ſo nahm
er ſein Buch heraus und las waͤhrend dem Gehen; oder er
trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf ſeiner Floͤte.
Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht ſchwer, und er behielt
dabei Zeit genug, alte Geſchichten zu leſen. Des Sommers
ging er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur
Samſtags Abend, und ging des Montags Morgen wieder
fort; dieſes waͤhrte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des
Sommers uͤber viel zu Haus und half ſeinem Vater am Schnei-
derhandwerk oder er machte Knoͤpfe.
Der Weg nach Florenburg und die Schule ſelber mach-
ten ihm manche vergnuͤgte Stunden. Der Schulmeiſter war
ein ſanfter, vernuͤnftiger Mann und wußte zu geben und zu
nehmen. Des Nachmittags nach dem Eſſen ſammelte Stil-
ling einen Haufen Kinder um ſich her, ging mit ihnen hin-
aus aufs Feld oder an einen Bach, und dann erzaͤhlte er ihnen
allerhand ſchoͤne, empfindſame Hiſtorien, und wenn er ſich
ausgeleert hatte, ſo mußten Andere erzaͤhlen. Einsmals wa-
ren ihrer auch Etliche zuſammen auf einer Wieſe, es fand ſich
ein Knabe herzu, dieſer fing an: Hoͤrt, Kinder! ich will euch
was erzaͤhlen: „Neben uns wohnt der alte Fruͤhling, ihr
„wißt, wie er daher geht und ſo an ſeinem Stock zittert: er
„hat keine Zaͤhne mehr, auch hoͤrt und ſieht er nicht viel. Wenn
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/111>, abgerufen am 23.11.2024.
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