Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

und nun bitt' ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter sei-
nen ehrlichen Abschied und bewillkommt die arme Nähnadel
mit Freuden, so lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr
seyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn Ihr auch nur
ein Schneider seyd. Summa Summarum! ich will das ganze
Ding rückgängig machen, sobald ich nach Lahnburg komme.

Stilling konnte vor Empfindung des Herzens die Thrä-
nen nicht einhalten. Es ward ihm so wohl in seiner Seele,
daß er es nicht aussprechen konnte. O! sagte er, Herr Vet-
ter! wahr ist das! Woher erlang' ich aber doch Kraft, um
meinem teuflischen Hochmuth zu widerstehen! -- ein, zwei,
drei Tage! -- und dann bin ich todt. -- Was hilfts mich
dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt gewesen zu
seyn? -- Ja, es ist wahr! -- Mein Herz ist die falscheste
Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein' ich, ich hätte die
Absicht, nur mit meinen Wissenschaften Gott und dem Näch-
sten zu dienen -- und wahrlich! -- es ist nicht wahr! ich
will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen,
um nur auch tief fallen zu können. O! wo krieg ich Kraft,
mich selber zu überwinden?

Goldmann konnte sich nicht mehr enthalten. Er weinte,
fiel Stillingen um den Hals und sagte: Edler! edler Vet-
ter! seyd getrost; dieses treue Herz wird Gott nicht fahren
lassen. Er wird euer Vater seyn. Kraft erlangt man nur
durch Arbeit; der Hammerschmid kann einen Centner Eisen
unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten
Stab, das ist uns Beiden unmöglich, und so kann ein Mensch,
der durch Prüfungen geübt ist, mehr überwinden, als ein
Muttersöhnchen, das immer an der Brust saugt und nichts
erfahren hat. Getrost, Vetter! freut Euch nur, wenn Trüb-
sale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni-
versität seyd, der etwas aus Euch machen will! --

Des andern Tages reiste also Stilling getröstet und ge-
stärkt wiederum nach seinem Vaterland. Der Abschied von
Herrn Goldmann kostete ihn viele Thränen, er glaubte, daß
er der rechtschaffenste Mann sey, den er je gesehen hatte, und
ich glaube jetzt auch noch, daß Stilling recht gehabt habe.

und nun bitt’ ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter ſei-
nen ehrlichen Abſchied und bewillkommt die arme Naͤhnadel
mit Freuden, ſo lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr
ſeyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn Ihr auch nur
ein Schneider ſeyd. Summa Summarum! ich will das ganze
Ding ruͤckgaͤngig machen, ſobald ich nach Lahnburg komme.

Stilling konnte vor Empfindung des Herzens die Thraͤ-
nen nicht einhalten. Es ward ihm ſo wohl in ſeiner Seele,
daß er es nicht ausſprechen konnte. O! ſagte er, Herr Vet-
ter! wahr iſt das! Woher erlang’ ich aber doch Kraft, um
meinem teufliſchen Hochmuth zu widerſtehen! — ein, zwei,
drei Tage! — und dann bin ich todt. — Was hilfts mich
dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt geweſen zu
ſeyn? — Ja, es iſt wahr! — Mein Herz iſt die falſcheſte
Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein’ ich, ich haͤtte die
Abſicht, nur mit meinen Wiſſenſchaften Gott und dem Naͤch-
ſten zu dienen — und wahrlich! — es iſt nicht wahr! ich
will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen,
um nur auch tief fallen zu koͤnnen. O! wo krieg ich Kraft,
mich ſelber zu uͤberwinden?

Goldmann konnte ſich nicht mehr enthalten. Er weinte,
fiel Stillingen um den Hals und ſagte: Edler! edler Vet-
ter! ſeyd getroſt; dieſes treue Herz wird Gott nicht fahren
laſſen. Er wird euer Vater ſeyn. Kraft erlangt man nur
durch Arbeit; der Hammerſchmid kann einen Centner Eiſen
unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten
Stab, das iſt uns Beiden unmoͤglich, und ſo kann ein Menſch,
der durch Pruͤfungen geuͤbt iſt, mehr uͤberwinden, als ein
Mutterſoͤhnchen, das immer an der Bruſt ſaugt und nichts
erfahren hat. Getroſt, Vetter! freut Euch nur, wenn Truͤb-
ſale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni-
verſitaͤt ſeyd, der etwas aus Euch machen will! —

Des andern Tages reiste alſo Stilling getroͤſtet und ge-
ſtaͤrkt wiederum nach ſeinem Vaterland. Der Abſchied von
Herrn Goldmann koſtete ihn viele Thraͤnen, er glaubte, daß
er der rechtſchaffenſte Mann ſey, den er je geſehen hatte, und
ich glaube jetzt auch noch, daß Stilling recht gehabt habe.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0182" n="174"/>
und nun bitt&#x2019; ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter &#x017F;ei-<lb/>
nen ehrlichen Ab&#x017F;chied und bewillkommt die arme Na&#x0364;hnadel<lb/>
mit Freuden, &#x017F;o lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr<lb/>
&#x017F;eyd mein lieber Vetter <hi rendition="#g">Stilling</hi>, und wenn Ihr auch nur<lb/>
ein Schneider &#x017F;eyd. Summa Summarum! ich will das ganze<lb/>
Ding ru&#x0364;ckga&#x0364;ngig machen, &#x017F;obald ich nach <hi rendition="#g">Lahnburg</hi> komme.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> konnte vor Empfindung des Herzens die Thra&#x0364;-<lb/>
nen nicht einhalten. Es ward ihm &#x017F;o wohl in &#x017F;einer Seele,<lb/>
daß er es nicht aus&#x017F;prechen konnte. O! &#x017F;agte er, Herr Vet-<lb/>
ter! wahr i&#x017F;t das! Woher erlang&#x2019; ich aber doch Kraft, um<lb/>
meinem teufli&#x017F;chen Hochmuth zu wider&#x017F;tehen! &#x2014; ein, zwei,<lb/>
drei Tage! &#x2014; und dann bin ich todt. &#x2014; Was hilfts mich<lb/>
dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt gewe&#x017F;en zu<lb/>
&#x017F;eyn? &#x2014; Ja, es i&#x017F;t wahr! &#x2014; Mein Herz i&#x017F;t die fal&#x017F;che&#x017F;te<lb/>
Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein&#x2019; ich, ich ha&#x0364;tte die<lb/>
Ab&#x017F;icht, nur mit meinen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften Gott und dem Na&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten zu dienen &#x2014; und wahrlich! &#x2014; es i&#x017F;t nicht wahr! ich<lb/>
will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen,<lb/>
um nur auch tief fallen zu ko&#x0364;nnen. O! wo krieg ich Kraft,<lb/>
mich &#x017F;elber zu u&#x0364;berwinden?</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Goldmann</hi> konnte &#x017F;ich nicht mehr enthalten. Er weinte,<lb/>
fiel <hi rendition="#g">Stillingen</hi> um den Hals und &#x017F;agte: Edler! edler Vet-<lb/>
ter! &#x017F;eyd getro&#x017F;t; die&#x017F;es treue Herz wird Gott nicht fahren<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Er wird euer Vater &#x017F;eyn. Kraft erlangt man nur<lb/>
durch Arbeit; der Hammer&#x017F;chmid kann einen Centner Ei&#x017F;en<lb/>
unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten<lb/>
Stab, das i&#x017F;t uns Beiden unmo&#x0364;glich, und &#x017F;o kann ein Men&#x017F;ch,<lb/>
der durch Pru&#x0364;fungen geu&#x0364;bt i&#x017F;t, <hi rendition="#g">mehr</hi> u&#x0364;berwinden, als ein<lb/>
Mutter&#x017F;o&#x0364;hnchen, das immer an der Bru&#x017F;t &#x017F;augt und nichts<lb/>
erfahren hat. Getro&#x017F;t, Vetter! freut Euch nur, wenn Tru&#x0364;b-<lb/>
&#x017F;ale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni-<lb/>
ver&#x017F;ita&#x0364;t &#x017F;eyd, der etwas aus Euch machen will! &#x2014;</p><lb/>
            <p>Des andern Tages reiste al&#x017F;o <hi rendition="#g">Stilling</hi> getro&#x0364;&#x017F;tet und ge-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rkt wiederum nach &#x017F;einem Vaterland. Der Ab&#x017F;chied von<lb/>
Herrn <hi rendition="#g">Goldmann</hi> ko&#x017F;tete ihn viele Thra&#x0364;nen, er glaubte, daß<lb/>
er der recht&#x017F;chaffen&#x017F;te Mann &#x017F;ey, den er je ge&#x017F;ehen hatte, und<lb/>
ich glaube jetzt auch noch, daß <hi rendition="#g">Stilling</hi> recht gehabt habe.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[174/0182] und nun bitt’ ich Euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter ſei- nen ehrlichen Abſchied und bewillkommt die arme Naͤhnadel mit Freuden, ſo lang, bis Euch Gott hervorziehen wird. Ihr ſeyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn Ihr auch nur ein Schneider ſeyd. Summa Summarum! ich will das ganze Ding ruͤckgaͤngig machen, ſobald ich nach Lahnburg komme. Stilling konnte vor Empfindung des Herzens die Thraͤ- nen nicht einhalten. Es ward ihm ſo wohl in ſeiner Seele, daß er es nicht ausſprechen konnte. O! ſagte er, Herr Vet- ter! wahr iſt das! Woher erlang’ ich aber doch Kraft, um meinem teufliſchen Hochmuth zu widerſtehen! — ein, zwei, drei Tage! — und dann bin ich todt. — Was hilfts mich dann, ein großer, vornehmer Mann in der Welt geweſen zu ſeyn? — Ja, es iſt wahr! — Mein Herz iſt die falſcheſte Kreatur auf Gottes Erdboden, immer mein’ ich, ich haͤtte die Abſicht, nur mit meinen Wiſſenſchaften Gott und dem Naͤch- ſten zu dienen — und wahrlich! — es iſt nicht wahr! ich will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen, um nur auch tief fallen zu koͤnnen. O! wo krieg ich Kraft, mich ſelber zu uͤberwinden? Goldmann konnte ſich nicht mehr enthalten. Er weinte, fiel Stillingen um den Hals und ſagte: Edler! edler Vet- ter! ſeyd getroſt; dieſes treue Herz wird Gott nicht fahren laſſen. Er wird euer Vater ſeyn. Kraft erlangt man nur durch Arbeit; der Hammerſchmid kann einen Centner Eiſen unter dem Hammer hin und her wenden, wie einen leichten Stab, das iſt uns Beiden unmoͤglich, und ſo kann ein Menſch, der durch Pruͤfungen geuͤbt iſt, mehr uͤberwinden, als ein Mutterſoͤhnchen, das immer an der Bruſt ſaugt und nichts erfahren hat. Getroſt, Vetter! freut Euch nur, wenn Truͤb- ſale kommen, und glaubt alsdann, daß Ihr auf Gottes Uni- verſitaͤt ſeyd, der etwas aus Euch machen will! — Des andern Tages reiste alſo Stilling getroͤſtet und ge- ſtaͤrkt wiederum nach ſeinem Vaterland. Der Abſchied von Herrn Goldmann koſtete ihn viele Thraͤnen, er glaubte, daß er der rechtſchaffenſte Mann ſey, den er je geſehen hatte, und ich glaube jetzt auch noch, daß Stilling recht gehabt habe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/182
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/182>, abgerufen am 15.05.2024.