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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Wenn er nun einige Wochen ins Märkische ging, um Büsche,
Berge und Güter zu messen und zu theilen, so nahm er seinen
Sohn mit, und dieses war so recht nach Stillings Sinn.
Er lebte dann in seinem Element, und sein Vater hatte Freude
daran, daß sein Sohn bessere Einsichten davon hatte, als er
selber. Dieses gab oftmalen zu allerhand Gesprächen und
Projekten Anlaß, welche Beide in der Einöde zusammen wech-
selten. Indessen war alles fruchtlos, und bestand in bloßen
leeren Worten. Oefters beobachteten ihn Leute, die in großen
Geschäften standen, und die wohl Jemand gebraucht hätten.
Diese bewunderten seine Geschicklichkeit; allein sein schlechter
Aufzug mißfiel einem Jeden, der ihn sah, und man urtheilte
ingeheim von ihm, er müßte wohl ein Lump seyn. Das merkte
er, und es brachte ihm unerträgliche Leiden. Er liebte selber
ein reinliches, ehrbares Kleid über die Maßen, allein sein Vater
konnte ihn nicht damit versehen, und ließ ihn darben.

Diese Zeiten waren kurz und vorübergehend; sobald er wie-
der nach Haus kam, so ging das Elend wieder an. Stil-
ling
machte sich alsdann bald wieder zu einem fremden Mei-
ster, um dem Joch zu entgehen. Doch reichte sein Verdienst
lange nicht zu, um sich ordentlich zu kleiden.

Einstmals kam er nach Hause. Er hatte auf einem benach-
barten Dorfe gearbeitet, und wollte etwas holen; er dachte an
nichts Widriges, und trat deßwegen freimüthig in die Stube.
Sein Vater sprang auf, sobald er ihn sah, griff ihn und wollte
ihn zur Erde werfen; Stilling aber ergriff seinen Vater an
beiden Armen, hielt ihn so, daß er sich nicht regen konnte, und
sah ihm mit einer Miene ins Gesicht, die einen Felsen hätte
spalten können. Und wahrlich! wenn er jemalen die Macht
der Leiden in all' ihrer Kraft auf sein Herz hat stürmen sehen,
so war es in diesem Zeitpunkte. Wilhelm konnte diesen Blick
nicht ertragen -- er suchte sich loszureißen; allein er konnte
sich nicht regen; die Arme und Hände seines Sohns waren fest
wie Stahl, und convulsivisch geschlossen. Vater! sprach er
sanftmüthig und durchdringend, Vater! -- Euer Blut
fleußt in meinen Adern, und das Blut -- das Blut

Stilling's sämmtl. Schriften. I. Band. 12

Wenn er nun einige Wochen ins Maͤrkiſche ging, um Buͤſche,
Berge und Guͤter zu meſſen und zu theilen, ſo nahm er ſeinen
Sohn mit, und dieſes war ſo recht nach Stillings Sinn.
Er lebte dann in ſeinem Element, und ſein Vater hatte Freude
daran, daß ſein Sohn beſſere Einſichten davon hatte, als er
ſelber. Dieſes gab oftmalen zu allerhand Geſpraͤchen und
Projekten Anlaß, welche Beide in der Einoͤde zuſammen wech-
ſelten. Indeſſen war alles fruchtlos, und beſtand in bloßen
leeren Worten. Oefters beobachteten ihn Leute, die in großen
Geſchaͤften ſtanden, und die wohl Jemand gebraucht haͤtten.
Dieſe bewunderten ſeine Geſchicklichkeit; allein ſein ſchlechter
Aufzug mißfiel einem Jeden, der ihn ſah, und man urtheilte
ingeheim von ihm, er muͤßte wohl ein Lump ſeyn. Das merkte
er, und es brachte ihm unertraͤgliche Leiden. Er liebte ſelber
ein reinliches, ehrbares Kleid uͤber die Maßen, allein ſein Vater
konnte ihn nicht damit verſehen, und ließ ihn darben.

Dieſe Zeiten waren kurz und voruͤbergehend; ſobald er wie-
der nach Haus kam, ſo ging das Elend wieder an. Stil-
ling
machte ſich alsdann bald wieder zu einem fremden Mei-
ſter, um dem Joch zu entgehen. Doch reichte ſein Verdienſt
lange nicht zu, um ſich ordentlich zu kleiden.

Einſtmals kam er nach Hauſe. Er hatte auf einem benach-
barten Dorfe gearbeitet, und wollte etwas holen; er dachte an
nichts Widriges, und trat deßwegen freimuͤthig in die Stube.
Sein Vater ſprang auf, ſobald er ihn ſah, griff ihn und wollte
ihn zur Erde werfen; Stilling aber ergriff ſeinen Vater an
beiden Armen, hielt ihn ſo, daß er ſich nicht regen konnte, und
ſah ihm mit einer Miene ins Geſicht, die einen Felſen haͤtte
ſpalten koͤnnen. Und wahrlich! wenn er jemalen die Macht
der Leiden in all’ ihrer Kraft auf ſein Herz hat ſtuͤrmen ſehen,
ſo war es in dieſem Zeitpunkte. Wilhelm konnte dieſen Blick
nicht ertragen — er ſuchte ſich loszureißen; allein er konnte
ſich nicht regen; die Arme und Haͤnde ſeines Sohns waren feſt
wie Stahl, und convulſiviſch geſchloſſen. Vater! ſprach er
ſanftmuͤthig und durchdringend, Vater! — Euer Blut
fleußt in meinen Adern, und das Blut — das Blut

Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 12
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[177/0185] Wenn er nun einige Wochen ins Maͤrkiſche ging, um Buͤſche, Berge und Guͤter zu meſſen und zu theilen, ſo nahm er ſeinen Sohn mit, und dieſes war ſo recht nach Stillings Sinn. Er lebte dann in ſeinem Element, und ſein Vater hatte Freude daran, daß ſein Sohn beſſere Einſichten davon hatte, als er ſelber. Dieſes gab oftmalen zu allerhand Geſpraͤchen und Projekten Anlaß, welche Beide in der Einoͤde zuſammen wech- ſelten. Indeſſen war alles fruchtlos, und beſtand in bloßen leeren Worten. Oefters beobachteten ihn Leute, die in großen Geſchaͤften ſtanden, und die wohl Jemand gebraucht haͤtten. Dieſe bewunderten ſeine Geſchicklichkeit; allein ſein ſchlechter Aufzug mißfiel einem Jeden, der ihn ſah, und man urtheilte ingeheim von ihm, er muͤßte wohl ein Lump ſeyn. Das merkte er, und es brachte ihm unertraͤgliche Leiden. Er liebte ſelber ein reinliches, ehrbares Kleid uͤber die Maßen, allein ſein Vater konnte ihn nicht damit verſehen, und ließ ihn darben. Dieſe Zeiten waren kurz und voruͤbergehend; ſobald er wie- der nach Haus kam, ſo ging das Elend wieder an. Stil- ling machte ſich alsdann bald wieder zu einem fremden Mei- ſter, um dem Joch zu entgehen. Doch reichte ſein Verdienſt lange nicht zu, um ſich ordentlich zu kleiden. Einſtmals kam er nach Hauſe. Er hatte auf einem benach- barten Dorfe gearbeitet, und wollte etwas holen; er dachte an nichts Widriges, und trat deßwegen freimuͤthig in die Stube. Sein Vater ſprang auf, ſobald er ihn ſah, griff ihn und wollte ihn zur Erde werfen; Stilling aber ergriff ſeinen Vater an beiden Armen, hielt ihn ſo, daß er ſich nicht regen konnte, und ſah ihm mit einer Miene ins Geſicht, die einen Felſen haͤtte ſpalten koͤnnen. Und wahrlich! wenn er jemalen die Macht der Leiden in all’ ihrer Kraft auf ſein Herz hat ſtuͤrmen ſehen, ſo war es in dieſem Zeitpunkte. Wilhelm konnte dieſen Blick nicht ertragen — er ſuchte ſich loszureißen; allein er konnte ſich nicht regen; die Arme und Haͤnde ſeines Sohns waren feſt wie Stahl, und convulſiviſch geſchloſſen. Vater! ſprach er ſanftmuͤthig und durchdringend, Vater! — Euer Blut fleußt in meinen Adern, und das Blut — das Blut Stilling’s ſämmtl. Schriften. I. Band. 12

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/185>, abgerufen am 21.11.2024.