Allein der rechtschaffene Mann hatte das erste Vierteljahr sechzig, hernach vierzig, zu Ende des Jahrs zwanzig und endlich kaum fünf, so daß er, bei aller Müh und Arbeit, endlich im Hunger, Kummer und Elend starb und seine Frau und Kinder bettelten.
Nach diesem Vorfall gab sich Herr Stollbein in Ruhe, er fing an, stille zu werden und sich um nichts mehr zu be- kümmern; er versah nur blos seine Amtsgeschäfte, und zwar mit aller Treue. Der Hauptfehler, welcher ihn so oft zu thö- richten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienstolz. Seine Frau hatte vornehme Verwandte, und die sah er gern hoch ans Brett kommen. Auch er selber strebte gern nach Gewalt und Ehre. Dieses ausgenommen, war er ein gelehrter und sehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm, er gab, so lange er hatte, und half dem Elenden, so viel er konnte. Nur dann war er ausgelassen und unerbittlich, wenn er sah, daß Jemand von geringem Stand Miene machte, ne- ben ihm emporzusteigen. Aus dieser Ursache war er auch Johann Stilling immer feind. Dieser war, wie oben gesagt worden, Commercien-Präsident des Salen'schen Lan- des; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken war, so ließ er Herrn Stilling immer merken, daß er ihn gar nicht für das erkannte, was er war; und wenn Jener nicht bescheiden genug gewesen wäre, dem alten Mann nach- zugeben, so hätte es oft harte Stöße abgesetzt.
Doch zeigte Stollbeins Beispiel, daß Güte des Herzens und Redlichkeit niemalen ungebessert sterben lasse.
Einstmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzu- legen, so daß also die vornehmsten Commercianten des Landes bei ihrem Präsidenten Stilling zusammenkommen mußten. Herr Pastor Stollbein kam auch, deßgleichen Schöffe Keil- hof, mit noch einigen andern Florenburgern. Herr Stil- ling ging auf den Pastor zu, nahm ihn an der Hand und führte ihn neben sich an die rechte Seite und ließ ihn da sitzen. Der Prediger war die ganze Zeit über aus der Maßen freundlich. Nach dem Mittagessen fing er an:
"Meine Herrn und Freunde! Ich bin alt und ich fühle, daß meine Kräfte mit Gewalt abnehmen, es ist das letzte
Allein der rechtſchaffene Mann hatte das erſte Vierteljahr ſechzig, hernach vierzig, zu Ende des Jahrs zwanzig und endlich kaum fuͤnf, ſo daß er, bei aller Muͤh und Arbeit, endlich im Hunger, Kummer und Elend ſtarb und ſeine Frau und Kinder bettelten.
Nach dieſem Vorfall gab ſich Herr Stollbein in Ruhe, er fing an, ſtille zu werden und ſich um nichts mehr zu be- kuͤmmern; er verſah nur blos ſeine Amtsgeſchaͤfte, und zwar mit aller Treue. Der Hauptfehler, welcher ihn ſo oft zu thoͤ- richten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienſtolz. Seine Frau hatte vornehme Verwandte, und die ſah er gern hoch ans Brett kommen. Auch er ſelber ſtrebte gern nach Gewalt und Ehre. Dieſes ausgenommen, war er ein gelehrter und ſehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm, er gab, ſo lange er hatte, und half dem Elenden, ſo viel er konnte. Nur dann war er ausgelaſſen und unerbittlich, wenn er ſah, daß Jemand von geringem Stand Miene machte, ne- ben ihm emporzuſteigen. Aus dieſer Urſache war er auch Johann Stilling immer feind. Dieſer war, wie oben geſagt worden, Commercien-Praͤſident des Salen’ſchen Lan- des; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken war, ſo ließ er Herrn Stilling immer merken, daß er ihn gar nicht fuͤr das erkannte, was er war; und wenn Jener nicht beſcheiden genug geweſen waͤre, dem alten Mann nach- zugeben, ſo haͤtte es oft harte Stoͤße abgeſetzt.
Doch zeigte Stollbeins Beiſpiel, daß Guͤte des Herzens und Redlichkeit niemalen ungebeſſert ſterben laſſe.
Einſtmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzu- legen, ſo daß alſo die vornehmſten Commercianten des Landes bei ihrem Praͤſidenten Stilling zuſammenkommen mußten. Herr Paſtor Stollbein kam auch, deßgleichen Schoͤffe Keil- hof, mit noch einigen andern Florenburgern. Herr Stil- ling ging auf den Paſtor zu, nahm ihn an der Hand und fuͤhrte ihn neben ſich an die rechte Seite und ließ ihn da ſitzen. Der Prediger war die ganze Zeit uͤber aus der Maßen freundlich. Nach dem Mittageſſen fing er an:
„Meine Herrn und Freunde! Ich bin alt und ich fuͤhle, daß meine Kraͤfte mit Gewalt abnehmen, es iſt das letzte
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Allein der rechtſchaffene Mann hatte das erſte Vierteljahr ſechzig,
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Kummer und Elend ſtarb und ſeine Frau und Kinder bettelten.
Nach dieſem Vorfall gab ſich Herr Stollbein in Ruhe,
er fing an, ſtille zu werden und ſich um nichts mehr zu be-
kuͤmmern; er verſah nur blos ſeine Amtsgeſchaͤfte, und zwar
mit aller Treue. Der Hauptfehler, welcher ihn ſo oft zu thoͤ-
richten Handlungen verleitet hatte, war ein Familienſtolz.
Seine Frau hatte vornehme Verwandte, und die ſah er gern
hoch ans Brett kommen. Auch er ſelber ſtrebte gern nach
Gewalt und Ehre. Dieſes ausgenommen, war er ein gelehrter
und ſehr gutherziger Mann; ein Armer kam nie fehl bei ihm,
er gab, ſo lange er hatte, und half dem Elenden, ſo viel er
konnte. Nur dann war er ausgelaſſen und unerbittlich, wenn
er ſah, daß Jemand von geringem Stand Miene machte, ne-
ben ihm emporzuſteigen. Aus dieſer Urſache war er auch
Johann Stilling immer feind. Dieſer war, wie oben
geſagt worden, Commercien-Praͤſident des Salen’ſchen Lan-
des; und da Stollbein ein großer Liebhaber von Bergwerken
war, ſo ließ er Herrn Stilling immer merken, daß er ihn
gar nicht fuͤr das erkannte, was er war; und wenn Jener
nicht beſcheiden genug geweſen waͤre, dem alten Mann nach-
zugeben, ſo haͤtte es oft harte Stoͤße abgeſetzt.
Doch zeigte Stollbeins Beiſpiel, daß Guͤte des Herzens
und Redlichkeit niemalen ungebeſſert ſterben laſſe.
Einſtmalen war eine allgemeine Gewerken-Rechnung abzu-
legen, ſo daß alſo die vornehmſten Commercianten des Landes
bei ihrem Praͤſidenten Stilling zuſammenkommen mußten.
Herr Paſtor Stollbein kam auch, deßgleichen Schoͤffe Keil-
hof, mit noch einigen andern Florenburgern. Herr Stil-
ling ging auf den Paſtor zu, nahm ihn an der Hand und
fuͤhrte ihn neben ſich an die rechte Seite und ließ ihn da
ſitzen. Der Prediger war die ganze Zeit uͤber aus der Maßen
freundlich. Nach dem Mittageſſen fing er an:
„Meine Herrn und Freunde! Ich bin alt und ich fuͤhle,
daß meine Kraͤfte mit Gewalt abnehmen, es iſt das letzte
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/199>, abgerufen am 09.11.2024.
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