Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Des andern Morgens ging er auch zu seinem Vater; die-
ser war ebenfalls sorgfältig, und fürchtete, er möchte in diesem
wichtigen Vorhaben scheitern: doch disputirte er nicht mit ihm,
sondern überließ ihn seinem Schicksal.

Nachdem er nun seine Geschäfte verrichtet hatte, ging er
wieder zu seinem Vater, nahm Abschied von ihm, und darauf
zu seinem Oheim. Dieser war aber in ein paar Tagen ganz
verändert. Stilling erstaunte darüber, noch mehr aber, als er die
Ursache vernahm. "Ja, sagte Johann Stilling: Ihr
müßt Medicin studiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille ist!"

Um diese Sache in ihrem Ursprung begreifen zu können,
muß ich eine kleine Ausschweifung machen, die Johann
Stilling
betrifft. Er war, noch ehe er Landmesser wurde,
mit einem sonderbaren Mann, einem katholischen Pfarrer, be-
kannt geworden, dieser war ein sehr geschickter Augenarzt,
und weit und breit wegen seiner Kuren berühmt. Nun hatte
Johann Stillings Frau sehr wehe Augen, deßwegen ging
ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas für sie zu holen.
Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf
hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, sich wacker in der
Geometrie zu üben. Molitor hatte es gut mit ihm vor,
er hatte Anleitung, bei einem sehr reichen und vornehmen
Freiherrn Rentmeister zu werden, und dieser Dienst gefiel ihm
besser als seine Pfarre. Nun war dieser Freiherr ein großer
Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle seine Güter
auf Charten bringen zu lassen. Hierzu bestimmte Molitor
Johann Stilling
, und dieses gerieth auch vollkommen.
So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann
Stilling
und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod
von diesem Herrn; als dieser aber starb, so wurde Molitor
abgedankt, und die Landmesserei hatte auch ein Ende.

Nun wurde Molitor in seinem Alter Vikarius in einem
Städtchen, welches vier Stunden von Lichthausen nord-
wärts liegt. Seine meiste Beschäftigung bestand in chymischen
Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der berühm-
teste Mann in der ganzen Gegend war.

Just nun während der Zeit, daß Heinrich Stilling in

Des andern Morgens ging er auch zu ſeinem Vater; die-
ſer war ebenfalls ſorgfaͤltig, und fuͤrchtete, er moͤchte in dieſem
wichtigen Vorhaben ſcheitern: doch diſputirte er nicht mit ihm,
ſondern uͤberließ ihn ſeinem Schickſal.

Nachdem er nun ſeine Geſchaͤfte verrichtet hatte, ging er
wieder zu ſeinem Vater, nahm Abſchied von ihm, und darauf
zu ſeinem Oheim. Dieſer war aber in ein paar Tagen ganz
veraͤndert. Stilling erſtaunte daruͤber, noch mehr aber, als er die
Urſache vernahm. „Ja, ſagte Johann Stilling: Ihr
muͤßt Medicin ſtudiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille iſt!“

Um dieſe Sache in ihrem Urſprung begreifen zu koͤnnen,
muß ich eine kleine Ausſchweifung machen, die Johann
Stilling
betrifft. Er war, noch ehe er Landmeſſer wurde,
mit einem ſonderbaren Mann, einem katholiſchen Pfarrer, be-
kannt geworden, dieſer war ein ſehr geſchickter Augenarzt,
und weit und breit wegen ſeiner Kuren beruͤhmt. Nun hatte
Johann Stillings Frau ſehr wehe Augen, deßwegen ging
ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas fuͤr ſie zu holen.
Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf
hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, ſich wacker in der
Geometrie zu uͤben. Molitor hatte es gut mit ihm vor,
er hatte Anleitung, bei einem ſehr reichen und vornehmen
Freiherrn Rentmeiſter zu werden, und dieſer Dienſt gefiel ihm
beſſer als ſeine Pfarre. Nun war dieſer Freiherr ein großer
Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle ſeine Guͤter
auf Charten bringen zu laſſen. Hierzu beſtimmte Molitor
Johann Stilling
, und dieſes gerieth auch vollkommen.
So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann
Stilling
und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod
von dieſem Herrn; als dieſer aber ſtarb, ſo wurde Molitor
abgedankt, und die Landmeſſerei hatte auch ein Ende.

Nun wurde Molitor in ſeinem Alter Vikarius in einem
Staͤdtchen, welches vier Stunden von Lichthauſen nord-
waͤrts liegt. Seine meiſte Beſchaͤftigung beſtand in chymiſchen
Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beruͤhm-
teſte Mann in der ganzen Gegend war.

Juſt nun waͤhrend der Zeit, daß Heinrich Stilling in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0257" n="249"/>
            <p>Des andern Morgens ging er auch zu &#x017F;einem Vater; die-<lb/>
&#x017F;er war ebenfalls &#x017F;orgfa&#x0364;ltig, und fu&#x0364;rchtete, er mo&#x0364;chte in die&#x017F;em<lb/>
wichtigen Vorhaben &#x017F;cheitern: doch di&#x017F;putirte er nicht mit ihm,<lb/>
&#x017F;ondern u&#x0364;berließ ihn &#x017F;einem Schick&#x017F;al.</p><lb/>
            <p>Nachdem er nun &#x017F;eine Ge&#x017F;cha&#x0364;fte verrichtet hatte, ging er<lb/>
wieder zu &#x017F;einem Vater, nahm Ab&#x017F;chied von ihm, und darauf<lb/>
zu &#x017F;einem Oheim. Die&#x017F;er war aber in ein paar Tagen ganz<lb/>
vera&#x0364;ndert. Stilling er&#x017F;taunte daru&#x0364;ber, noch mehr aber, als er die<lb/>
Ur&#x017F;ache vernahm. &#x201E;Ja, &#x017F;agte <hi rendition="#g">Johann Stilling</hi>: Ihr<lb/>
mu&#x0364;ßt Medicin &#x017F;tudiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille i&#x017F;t!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Um die&#x017F;e Sache in ihrem Ur&#x017F;prung begreifen zu ko&#x0364;nnen,<lb/>
muß ich eine kleine Aus&#x017F;chweifung machen, die <hi rendition="#g">Johann<lb/>
Stilling</hi> betrifft. Er war, noch ehe er Landme&#x017F;&#x017F;er wurde,<lb/>
mit einem &#x017F;onderbaren Mann, einem katholi&#x017F;chen Pfarrer, be-<lb/>
kannt geworden, die&#x017F;er war ein &#x017F;ehr ge&#x017F;chickter Augenarzt,<lb/>
und weit und breit wegen &#x017F;einer Kuren beru&#x0364;hmt. Nun hatte<lb/><hi rendition="#g">Johann Stillings</hi> Frau &#x017F;ehr wehe Augen, deßwegen ging<lb/>
ihr Mann zu <hi rendition="#g">Molitor</hi> hin, um Etwas fu&#x0364;r &#x017F;ie zu holen.<lb/>
Der Pfarrer merkte bald, daß <hi rendition="#g">Johann</hi> einen offnen Kopf<lb/>
hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, &#x017F;ich wacker in der<lb/>
Geometrie zu u&#x0364;ben. <hi rendition="#g">Molitor</hi> hatte es gut mit ihm vor,<lb/>
er hatte Anleitung, bei einem &#x017F;ehr reichen und vornehmen<lb/>
Freiherrn Rentmei&#x017F;ter zu werden, und die&#x017F;er Dien&#x017F;t gefiel ihm<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er als &#x017F;eine Pfarre. Nun war die&#x017F;er Freiherr ein großer<lb/>
Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle &#x017F;eine Gu&#x0364;ter<lb/>
auf Charten bringen zu la&#x017F;&#x017F;en. Hierzu be&#x017F;timmte <hi rendition="#g">Molitor<lb/>
Johann Stilling</hi>, und die&#x017F;es gerieth auch vollkommen.<lb/>
So lange der alte Freiherr lebte, hatten <hi rendition="#g">Molitor, Johann<lb/>
Stilling</hi> und zuweilen auch <hi rendition="#g">Wilhelm Stilling</hi> ihr Brod<lb/>
von die&#x017F;em Herrn; als die&#x017F;er aber &#x017F;tarb, &#x017F;o wurde <hi rendition="#g">Molitor</hi><lb/>
abgedankt, und die Landme&#x017F;&#x017F;erei hatte auch ein Ende.</p><lb/>
            <p>Nun wurde <hi rendition="#g">Molitor</hi> in &#x017F;einem Alter Vikarius in einem<lb/>
Sta&#x0364;dtchen, welches vier Stunden von <hi rendition="#g">Lichthau&#x017F;en</hi> nord-<lb/>
wa&#x0364;rts liegt. Seine mei&#x017F;te Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung be&#x017F;tand in chymi&#x017F;chen<lb/>
Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beru&#x0364;hm-<lb/>
te&#x017F;te Mann in der ganzen Gegend war.</p><lb/>
            <p>Ju&#x017F;t nun wa&#x0364;hrend der Zeit, daß <hi rendition="#g">Heinrich Stilling</hi> in<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0257] Des andern Morgens ging er auch zu ſeinem Vater; die- ſer war ebenfalls ſorgfaͤltig, und fuͤrchtete, er moͤchte in dieſem wichtigen Vorhaben ſcheitern: doch diſputirte er nicht mit ihm, ſondern uͤberließ ihn ſeinem Schickſal. Nachdem er nun ſeine Geſchaͤfte verrichtet hatte, ging er wieder zu ſeinem Vater, nahm Abſchied von ihm, und darauf zu ſeinem Oheim. Dieſer war aber in ein paar Tagen ganz veraͤndert. Stilling erſtaunte daruͤber, noch mehr aber, als er die Urſache vernahm. „Ja, ſagte Johann Stilling: Ihr muͤßt Medicin ſtudiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille iſt!“ Um dieſe Sache in ihrem Urſprung begreifen zu koͤnnen, muß ich eine kleine Ausſchweifung machen, die Johann Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmeſſer wurde, mit einem ſonderbaren Mann, einem katholiſchen Pfarrer, be- kannt geworden, dieſer war ein ſehr geſchickter Augenarzt, und weit und breit wegen ſeiner Kuren beruͤhmt. Nun hatte Johann Stillings Frau ſehr wehe Augen, deßwegen ging ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas fuͤr ſie zu holen. Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, ſich wacker in der Geometrie zu uͤben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bei einem ſehr reichen und vornehmen Freiherrn Rentmeiſter zu werden, und dieſer Dienſt gefiel ihm beſſer als ſeine Pfarre. Nun war dieſer Freiherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle ſeine Guͤter auf Charten bringen zu laſſen. Hierzu beſtimmte Molitor Johann Stilling, und dieſes gerieth auch vollkommen. So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod von dieſem Herrn; als dieſer aber ſtarb, ſo wurde Molitor abgedankt, und die Landmeſſerei hatte auch ein Ende. Nun wurde Molitor in ſeinem Alter Vikarius in einem Staͤdtchen, welches vier Stunden von Lichthauſen nord- waͤrts liegt. Seine meiſte Beſchaͤftigung beſtand in chymiſchen Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beruͤhm- teſte Mann in der ganzen Gegend war. Juſt nun waͤhrend der Zeit, daß Heinrich Stilling in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/257
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/257>, abgerufen am 24.11.2024.