Des andern Morgens ging er auch zu seinem Vater; die- ser war ebenfalls sorgfältig, und fürchtete, er möchte in diesem wichtigen Vorhaben scheitern: doch disputirte er nicht mit ihm, sondern überließ ihn seinem Schicksal.
Nachdem er nun seine Geschäfte verrichtet hatte, ging er wieder zu seinem Vater, nahm Abschied von ihm, und darauf zu seinem Oheim. Dieser war aber in ein paar Tagen ganz verändert. Stilling erstaunte darüber, noch mehr aber, als er die Ursache vernahm. "Ja, sagte Johann Stilling: Ihr müßt Medicin studiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille ist!"
Um diese Sache in ihrem Ursprung begreifen zu können, muß ich eine kleine Ausschweifung machen, die Johann Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmesser wurde, mit einem sonderbaren Mann, einem katholischen Pfarrer, be- kannt geworden, dieser war ein sehr geschickter Augenarzt, und weit und breit wegen seiner Kuren berühmt. Nun hatte Johann Stillings Frau sehr wehe Augen, deßwegen ging ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas für sie zu holen. Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, sich wacker in der Geometrie zu üben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bei einem sehr reichen und vornehmen Freiherrn Rentmeister zu werden, und dieser Dienst gefiel ihm besser als seine Pfarre. Nun war dieser Freiherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle seine Güter auf Charten bringen zu lassen. Hierzu bestimmte Molitor Johann Stilling, und dieses gerieth auch vollkommen. So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod von diesem Herrn; als dieser aber starb, so wurde Molitor abgedankt, und die Landmesserei hatte auch ein Ende.
Nun wurde Molitor in seinem Alter Vikarius in einem Städtchen, welches vier Stunden von Lichthausen nord- wärts liegt. Seine meiste Beschäftigung bestand in chymischen Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der berühm- teste Mann in der ganzen Gegend war.
Just nun während der Zeit, daß Heinrich Stilling in
Des andern Morgens ging er auch zu ſeinem Vater; die- ſer war ebenfalls ſorgfaͤltig, und fuͤrchtete, er moͤchte in dieſem wichtigen Vorhaben ſcheitern: doch diſputirte er nicht mit ihm, ſondern uͤberließ ihn ſeinem Schickſal.
Nachdem er nun ſeine Geſchaͤfte verrichtet hatte, ging er wieder zu ſeinem Vater, nahm Abſchied von ihm, und darauf zu ſeinem Oheim. Dieſer war aber in ein paar Tagen ganz veraͤndert. Stilling erſtaunte daruͤber, noch mehr aber, als er die Urſache vernahm. „Ja, ſagte Johann Stilling: Ihr muͤßt Medicin ſtudiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille iſt!“
Um dieſe Sache in ihrem Urſprung begreifen zu koͤnnen, muß ich eine kleine Ausſchweifung machen, die Johann Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmeſſer wurde, mit einem ſonderbaren Mann, einem katholiſchen Pfarrer, be- kannt geworden, dieſer war ein ſehr geſchickter Augenarzt, und weit und breit wegen ſeiner Kuren beruͤhmt. Nun hatte Johann Stillings Frau ſehr wehe Augen, deßwegen ging ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas fuͤr ſie zu holen. Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, ſich wacker in der Geometrie zu uͤben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bei einem ſehr reichen und vornehmen Freiherrn Rentmeiſter zu werden, und dieſer Dienſt gefiel ihm beſſer als ſeine Pfarre. Nun war dieſer Freiherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle ſeine Guͤter auf Charten bringen zu laſſen. Hierzu beſtimmte Molitor Johann Stilling, und dieſes gerieth auch vollkommen. So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod von dieſem Herrn; als dieſer aber ſtarb, ſo wurde Molitor abgedankt, und die Landmeſſerei hatte auch ein Ende.
Nun wurde Molitor in ſeinem Alter Vikarius in einem Staͤdtchen, welches vier Stunden von Lichthauſen nord- waͤrts liegt. Seine meiſte Beſchaͤftigung beſtand in chymiſchen Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beruͤhm- teſte Mann in der ganzen Gegend war.
Juſt nun waͤhrend der Zeit, daß Heinrich Stilling in
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Des andern Morgens ging er auch zu ſeinem Vater; die-
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wichtigen Vorhaben ſcheitern: doch diſputirte er nicht mit ihm,
ſondern uͤberließ ihn ſeinem Schickſal.
Nachdem er nun ſeine Geſchaͤfte verrichtet hatte, ging er
wieder zu ſeinem Vater, nahm Abſchied von ihm, und darauf
zu ſeinem Oheim. Dieſer war aber in ein paar Tagen ganz
veraͤndert. Stilling erſtaunte daruͤber, noch mehr aber, als er die
Urſache vernahm. „Ja, ſagte Johann Stilling: Ihr
muͤßt Medicin ſtudiren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille iſt!“
Um dieſe Sache in ihrem Urſprung begreifen zu koͤnnen,
muß ich eine kleine Ausſchweifung machen, die Johann
Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmeſſer wurde,
mit einem ſonderbaren Mann, einem katholiſchen Pfarrer, be-
kannt geworden, dieſer war ein ſehr geſchickter Augenarzt,
und weit und breit wegen ſeiner Kuren beruͤhmt. Nun hatte
Johann Stillings Frau ſehr wehe Augen, deßwegen ging
ihr Mann zu Molitor hin, um Etwas fuͤr ſie zu holen.
Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offnen Kopf
hatte, und deßwegen munterte er ihn auf, ſich wacker in der
Geometrie zu uͤben. Molitor hatte es gut mit ihm vor,
er hatte Anleitung, bei einem ſehr reichen und vornehmen
Freiherrn Rentmeiſter zu werden, und dieſer Dienſt gefiel ihm
beſſer als ſeine Pfarre. Nun war dieſer Freiherr ein großer
Liebhaber von der Geometrie, und Willens, alle ſeine Guͤter
auf Charten bringen zu laſſen. Hierzu beſtimmte Molitor
Johann Stilling, und dieſes gerieth auch vollkommen.
So lange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann
Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brod
von dieſem Herrn; als dieſer aber ſtarb, ſo wurde Molitor
abgedankt, und die Landmeſſerei hatte auch ein Ende.
Nun wurde Molitor in ſeinem Alter Vikarius in einem
Staͤdtchen, welches vier Stunden von Lichthauſen nord-
waͤrts liegt. Seine meiſte Beſchaͤftigung beſtand in chymiſchen
Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der beruͤhm-
teſte Mann in der ganzen Gegend war.
Juſt nun waͤhrend der Zeit, daß Heinrich Stilling in
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/257>, abgerufen am 24.11.2024.
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