sah er sich auf Einmal in eine große, glänzende, kleinstädtische, geldhungrige Kaufmannswelt versetzt, mit welcher er im ge- ringsten nicht harmonirte, wo man die Gelehrten nur nach dem Verhältniß ihres Geldvorraths schätzte, wo Empfindsam- keit, Lektüre und Gelehrsamkeit lächerlich war, und wo nur der Ehre genoß, der viel erwerben konnte. Er war also ein höchst kleines Lichtchen, bei dem sich Niemand aufhalten, viel- weniger erwärmen mochte. Stilling fing also an, Kummer zu spüren.
Indessen vergingen zwei, es vergingen drei Tage, ehe sich Jemand fand, der seiner Hülfe bedurfte, und die fünf Reichs- thaler schmolzen verzweifelt zusammen. Den vierten Tag des Morgens aber kam eine Frau von Dornfeld, einem Flecken, der drei Viertelstunden von Schönenthal ostwärts liegt; so wie sie zur Thür hereintrat, fing sie mit thränenden Augen an: "Ach, Herr Doktor! wir haben von Ihnen gehört, daß "Sie ein sehr geschickter Mann sind, und Etwas verstehen, "nun haben wir ein großes, großes Unglück im Haus, und "da haben wir alle Doktoren fern und nah gebraucht, aber "Niemand -- Keiner kann ihm helfen; nun komme ich zu "Ihnen; ach, helfen Sie doch meinem armen Kinde!"
Lieber Gott! dachte Stilling bei sich selbst, am ersten Patienten, den ich bekomme, haben sich alle erfahrne Aerzte zu Schanden kurirt, was werde ich Unerfahrner denn ausrich- ten? Er fragte indessen: Was fehlt denn eurem Kinde?
Die arme Frau erzählte mit vielen Thränen die Geschichte ihres Kranken, welche vornehmlich auf folgende Umstände hin- auslief:
Der Knabe war eilf Jahr alt, und hatte vor etwa einem Vierteljahr die Rötheln gehabt; aus Unachtsamkeit seiner Wär- ter war er zu früh in die kalte Luft gekommen, die Röthel- materie war zurück in's Hirn getreten, und hatte nun ganz sonderbare Wirkungen hervorgebracht: seit sechs Wochen lag der Kranke ganz ohne Empfindung und Bewußtseyn im Bett, er regte kein Glied am ganzen Leib, außer den rechten Arm, welcher Tag und Nacht unaufhörlich, wie der Perpendickel einer Uhr, hin und her fuhr; durch Einflößung dünner Brühen
ſah er ſich auf Einmal in eine große, glaͤnzende, kleinſtaͤdtiſche, geldhungrige Kaufmannswelt verſetzt, mit welcher er im ge- ringſten nicht harmonirte, wo man die Gelehrten nur nach dem Verhaͤltniß ihres Geldvorraths ſchaͤtzte, wo Empfindſam- keit, Lektuͤre und Gelehrſamkeit laͤcherlich war, und wo nur der Ehre genoß, der viel erwerben konnte. Er war alſo ein hoͤchſt kleines Lichtchen, bei dem ſich Niemand aufhalten, viel- weniger erwaͤrmen mochte. Stilling fing alſo an, Kummer zu ſpuͤren.
Indeſſen vergingen zwei, es vergingen drei Tage, ehe ſich Jemand fand, der ſeiner Huͤlfe bedurfte, und die fuͤnf Reichs- thaler ſchmolzen verzweifelt zuſammen. Den vierten Tag des Morgens aber kam eine Frau von Dornfeld, einem Flecken, der drei Viertelſtunden von Schoͤnenthal oſtwaͤrts liegt; ſo wie ſie zur Thuͤr hereintrat, fing ſie mit thraͤnenden Augen an: „Ach, Herr Doktor! wir haben von Ihnen gehoͤrt, daß „Sie ein ſehr geſchickter Mann ſind, und Etwas verſtehen, „nun haben wir ein großes, großes Ungluͤck im Haus, und „da haben wir alle Doktoren fern und nah gebraucht, aber „Niemand — Keiner kann ihm helfen; nun komme ich zu „Ihnen; ach, helfen Sie doch meinem armen Kinde!“
Lieber Gott! dachte Stilling bei ſich ſelbſt, am erſten Patienten, den ich bekomme, haben ſich alle erfahrne Aerzte zu Schanden kurirt, was werde ich Unerfahrner denn ausrich- ten? Er fragte indeſſen: Was fehlt denn eurem Kinde?
Die arme Frau erzaͤhlte mit vielen Thraͤnen die Geſchichte ihres Kranken, welche vornehmlich auf folgende Umſtaͤnde hin- auslief:
Der Knabe war eilf Jahr alt, und hatte vor etwa einem Vierteljahr die Roͤtheln gehabt; aus Unachtſamkeit ſeiner Waͤr- ter war er zu fruͤh in die kalte Luft gekommen, die Roͤthel- materie war zuruͤck in’s Hirn getreten, und hatte nun ganz ſonderbare Wirkungen hervorgebracht: ſeit ſechs Wochen lag der Kranke ganz ohne Empfindung und Bewußtſeyn im Bett, er regte kein Glied am ganzen Leib, außer den rechten Arm, welcher Tag und Nacht unaufhoͤrlich, wie der Perpendickel einer Uhr, hin und her fuhr; durch Einfloͤßung duͤnner Bruͤhen
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ſah er ſich auf Einmal in eine große, glaͤnzende, kleinſtaͤdtiſche,
geldhungrige Kaufmannswelt verſetzt, mit welcher er im ge-
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dem Verhaͤltniß ihres Geldvorraths ſchaͤtzte, wo Empfindſam-
keit, Lektuͤre und Gelehrſamkeit laͤcherlich war, und wo nur
der Ehre genoß, der viel erwerben konnte. Er war alſo ein
hoͤchſt kleines Lichtchen, bei dem ſich Niemand aufhalten, viel-
weniger erwaͤrmen mochte. Stilling fing alſo an, Kummer
zu ſpuͤren.
Indeſſen vergingen zwei, es vergingen drei Tage, ehe ſich
Jemand fand, der ſeiner Huͤlfe bedurfte, und die fuͤnf Reichs-
thaler ſchmolzen verzweifelt zuſammen. Den vierten Tag des
Morgens aber kam eine Frau von Dornfeld, einem Flecken,
der drei Viertelſtunden von Schoͤnenthal oſtwaͤrts liegt; ſo
wie ſie zur Thuͤr hereintrat, fing ſie mit thraͤnenden Augen
an: „Ach, Herr Doktor! wir haben von Ihnen gehoͤrt, daß
„Sie ein ſehr geſchickter Mann ſind, und Etwas verſtehen,
„nun haben wir ein großes, großes Ungluͤck im Haus, und
„da haben wir alle Doktoren fern und nah gebraucht, aber
„Niemand — Keiner kann ihm helfen; nun komme ich zu
„Ihnen; ach, helfen Sie doch meinem armen Kinde!“
Lieber Gott! dachte Stilling bei ſich ſelbſt, am erſten
Patienten, den ich bekomme, haben ſich alle erfahrne Aerzte
zu Schanden kurirt, was werde ich Unerfahrner denn ausrich-
ten? Er fragte indeſſen: Was fehlt denn eurem Kinde?
Die arme Frau erzaͤhlte mit vielen Thraͤnen die Geſchichte
ihres Kranken, welche vornehmlich auf folgende Umſtaͤnde hin-
auslief:
Der Knabe war eilf Jahr alt, und hatte vor etwa einem
Vierteljahr die Roͤtheln gehabt; aus Unachtſamkeit ſeiner Waͤr-
ter war er zu fruͤh in die kalte Luft gekommen, die Roͤthel-
materie war zuruͤck in’s Hirn getreten, und hatte nun ganz
ſonderbare Wirkungen hervorgebracht: ſeit ſechs Wochen lag
der Kranke ganz ohne Empfindung und Bewußtſeyn im Bett,
er regte kein Glied am ganzen Leib, außer den rechten Arm,
welcher Tag und Nacht unaufhoͤrlich, wie der Perpendickel
einer Uhr, hin und her fuhr; durch Einfloͤßung duͤnner Bruͤhen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/306>, abgerufen am 22.11.2024.
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