findet man Alles ganz anders, man weiß wenig oder nichts von dem geheimen Gang der Natur und soll doch Alles wis- sen; der junge Arzt schämt sich, seine Unkunde zu gestehen, er schwadronirt also ein Galimathias daher, wobei dem erfahr- nen Praktiker die Ohren gellen, setzt sich hin, und verschreibt etwas nach seiner Phantasie; wenn er nun noch einigermaßen Gewissen hat, so wählt er Mittel, die wenigstens nicht scha- den können; allein wie oft wird dadurch der wichtigste Zeit- punkt versäumt, wo man nützlich wirken könnte? -- und über das Alles glaubt man manchmal etwas Unschädliches ver- schrieben zu haben und bedenkt nicht, daß man auch dadurch noch schaden könne, weil man die Krankheit nicht kennt.
Durchaus sollten also die Jünglinge nach vollständig erlang- ten Kenntnissen der Hülfswissenschaften, die Wundarznei aus dem Grunde studiren, denn diese enthält die zuverläßigsten Er- kenntnißgründe, aus welchen man nach der Analogie auf die innern Krankheiten schließen kann; dann müßten sie mit dem Lehrer der praktischen Arzneikunde, der aber selbst ein sehr gu- ter Arzt seyn muß, am Krankenbett die Natur studiren, und dann endlich, aber man merke wohl! unter der Leitung eines geschickten Mannes, ihr höchst wichtiges Amt an- treten! -- Gott! wo fehlt es mehr, als in der Einrichtung des Medicinalwesens, und in der dazu gehörigen Polizey? --
Diese erste Kur machte ein großes Geräusch; nun kamen Blinde, Lahme, Krüppel und unheilbare Kranke von aller Art; allein Dippels Oel half nicht Allen, und für alle Schäden hatte Stilling noch kein solches Spezificum gefunden; der Zulauf ließ also wieder nach; doch kam er nun in eine ordent- liche Praxis, die ihm den nothwendigsten Unterhalt verschaffte. Seine Kollegen fingen indessen an, über ihn loszuziehen, denn sie hielten die Kur für eine Quacksalberei und machten das Publikum ahnden, daß er ein wahrer Charlatan sey und wer- den würde. Dieses vorläufige Gerücht kam nun auch nach Rüsselstein ans Medicinalkollegium, und brachte den Räthen in denselben nachtheilige Ideen von ihm bei, er wurde dahin zum Examen gefordert, in welchem er ziemlich hergenommen wurde; doch bestand er trotz allen Versuchen der Schikane so,
findet man Alles ganz anders, man weiß wenig oder nichts von dem geheimen Gang der Natur und ſoll doch Alles wiſ- ſen; der junge Arzt ſchaͤmt ſich, ſeine Unkunde zu geſtehen, er ſchwadronirt alſo ein Galimathias daher, wobei dem erfahr- nen Praktiker die Ohren gellen, ſetzt ſich hin, und verſchreibt etwas nach ſeiner Phantaſie; wenn er nun noch einigermaßen Gewiſſen hat, ſo waͤhlt er Mittel, die wenigſtens nicht ſcha- den koͤnnen; allein wie oft wird dadurch der wichtigſte Zeit- punkt verſaͤumt, wo man nuͤtzlich wirken koͤnnte? — und uͤber das Alles glaubt man manchmal etwas Unſchaͤdliches ver- ſchrieben zu haben und bedenkt nicht, daß man auch dadurch noch ſchaden koͤnne, weil man die Krankheit nicht kennt.
Durchaus ſollten alſo die Juͤnglinge nach vollſtaͤndig erlang- ten Kenntniſſen der Huͤlfswiſſenſchaften, die Wundarznei aus dem Grunde ſtudiren, denn dieſe enthaͤlt die zuverlaͤßigſten Er- kenntnißgruͤnde, aus welchen man nach der Analogie auf die innern Krankheiten ſchließen kann; dann muͤßten ſie mit dem Lehrer der praktiſchen Arzneikunde, der aber ſelbſt ein ſehr gu- ter Arzt ſeyn muß, am Krankenbett die Natur ſtudiren, und dann endlich, aber man merke wohl! unter der Leitung eines geſchickten Mannes, ihr hoͤchſt wichtiges Amt an- treten! — Gott! wo fehlt es mehr, als in der Einrichtung des Medicinalweſens, und in der dazu gehoͤrigen Polizey? —
Dieſe erſte Kur machte ein großes Geraͤuſch; nun kamen Blinde, Lahme, Kruͤppel und unheilbare Kranke von aller Art; allein Dippels Oel half nicht Allen, und fuͤr alle Schaͤden hatte Stilling noch kein ſolches Spezificum gefunden; der Zulauf ließ alſo wieder nach; doch kam er nun in eine ordent- liche Praxis, die ihm den nothwendigſten Unterhalt verſchaffte. Seine Kollegen fingen indeſſen an, uͤber ihn loszuziehen, denn ſie hielten die Kur fuͤr eine Quackſalberei und machten das Publikum ahnden, daß er ein wahrer Charlatan ſey und wer- den wuͤrde. Dieſes vorlaͤufige Geruͤcht kam nun auch nach Ruͤſſelſtein ans Medicinalkollegium, und brachte den Raͤthen in denſelben nachtheilige Ideen von ihm bei, er wurde dahin zum Examen gefordert, in welchem er ziemlich hergenommen wurde; doch beſtand er trotz allen Verſuchen der Schikane ſo,
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findet man Alles ganz anders, man weiß wenig oder nichts
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er ſchwadronirt alſo ein Galimathias daher, wobei dem erfahr-
nen Praktiker die Ohren gellen, ſetzt ſich hin, und verſchreibt
etwas nach ſeiner Phantaſie; wenn er nun noch einigermaßen
Gewiſſen hat, ſo waͤhlt er Mittel, die wenigſtens nicht ſcha-
den koͤnnen; allein wie oft wird dadurch der wichtigſte Zeit-
punkt verſaͤumt, wo man nuͤtzlich wirken koͤnnte? — und uͤber
das Alles glaubt man manchmal etwas Unſchaͤdliches ver-
ſchrieben zu haben und bedenkt nicht, daß man auch dadurch
noch ſchaden koͤnne, weil man die Krankheit nicht kennt.
Durchaus ſollten alſo die Juͤnglinge nach vollſtaͤndig erlang-
ten Kenntniſſen der Huͤlfswiſſenſchaften, die Wundarznei aus
dem Grunde ſtudiren, denn dieſe enthaͤlt die zuverlaͤßigſten Er-
kenntnißgruͤnde, aus welchen man nach der Analogie auf die
innern Krankheiten ſchließen kann; dann muͤßten ſie mit dem
Lehrer der praktiſchen Arzneikunde, der aber ſelbſt ein ſehr gu-
ter Arzt ſeyn muß, am Krankenbett die Natur ſtudiren, und
dann endlich, aber man merke wohl! unter der Leitung
eines geſchickten Mannes, ihr hoͤchſt wichtiges Amt an-
treten! — Gott! wo fehlt es mehr, als in der Einrichtung
des Medicinalweſens, und in der dazu gehoͤrigen Polizey? —
Dieſe erſte Kur machte ein großes Geraͤuſch; nun kamen
Blinde, Lahme, Kruͤppel und unheilbare Kranke von aller Art;
allein Dippels Oel half nicht Allen, und fuͤr alle Schaͤden
hatte Stilling noch kein ſolches Spezificum gefunden; der
Zulauf ließ alſo wieder nach; doch kam er nun in eine ordent-
liche Praxis, die ihm den nothwendigſten Unterhalt verſchaffte.
Seine Kollegen fingen indeſſen an, uͤber ihn loszuziehen, denn
ſie hielten die Kur fuͤr eine Quackſalberei und machten das
Publikum ahnden, daß er ein wahrer Charlatan ſey und wer-
den wuͤrde. Dieſes vorlaͤufige Geruͤcht kam nun auch nach
Ruͤſſelſtein ans Medicinalkollegium, und brachte den Raͤthen
in denſelben nachtheilige Ideen von ihm bei, er wurde dahin
zum Examen gefordert, in welchem er ziemlich hergenommen
wurde; doch beſtand er trotz allen Verſuchen der Schikane ſo,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/309>, abgerufen am 22.11.2024.
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