chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner schwer auf's Herz: wirst du auch diesen Tag dein Auskom- men finden? denn der Fall war sehr selten, daß er zwei Tage Geldvorrath hatte, freilich stunden ihm seine Erfahrungen und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er sah denn doch täglich noch frömmere Leute, die mit dem bittersten Man- gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu stil- len; was konnte ihn also anders trösten, als ein unbedingtes Hingeben an die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters, der ihn nicht würde über Vermögen versucht werden lassen?
Dazu kam noch ein Umstand: er hatte den Grundsatz, daß jeder Christ, und besonders der Arzt, ohne zu vernünfteln, blos im Vertrauen auf Gott, wohlthätig seyn müsse: dadurch beg[ - 2 Zeichen fehlen]g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus- armen öfters die Arzneimittel in der Apotheke auf seine Rech- nung machen ließ, und sich daher in Schulden steckte, die ihm hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht darauf an, bei solchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein- genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht sagen, daß in solchen Fällen innerer Trieb zur Wohlthätigkeit seine Handlun- gen leitete, nein! es war auch ein gewisser Leichtsinn und Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwäche des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end- lich durch viele schwere Proben genugsam kennen lernte. Daß er aber auf diese Weise eine sehr ausgebreitete Praxis bekam, ist kein Wunder, er hatte immer überflüssig zu thun, aber seine Mühe trug wenig ein. Christine härmte sich auch darüber ab, denn sie war sehr sparsam, und er sagte ihr nichts davon, wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwürfe zu hören, denn er glaubte gewiß, Gott würde ihn auf andere Weise dafür segnen. Sonst waren Beide sehr mäßig in Nah- rung und Kleidung, sie begnügten sich blos mit dem, was der äußerste Wohlstand erforderte.
Christine wurde also immer schlimmer, und Stilling glaubte nun gewiß, er würde sie verlieren müssen. An einem Vormittag, als er am Bette saß und ihr aufwartete, fing ihr der Odem auf Einmal an still zu stehen, sie reckte die Arme
chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner ſchwer auf’s Herz: wirſt du auch dieſen Tag dein Auskom- men finden? denn der Fall war ſehr ſelten, daß er zwei Tage Geldvorrath hatte, freilich ſtunden ihm ſeine Erfahrungen und Glaubensproben deutlich vor Augen, aber er ſah denn doch taͤglich noch froͤmmere Leute, die mit dem bitterſten Man- gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu ſtil- len; was konnte ihn alſo anders troͤſten, als ein unbedingtes Hingeben an die Barmherzigkeit des himmliſchen Vaters, der ihn nicht wuͤrde uͤber Vermoͤgen verſucht werden laſſen?
Dazu kam noch ein Umſtand: er hatte den Grundſatz, daß jeder Chriſt, und beſonders der Arzt, ohne zu vernuͤnfteln, blos im Vertrauen auf Gott, wohlthaͤtig ſeyn muͤſſe: dadurch beg[ – 2 Zeichen fehlen]g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus- armen oͤfters die Arzneimittel in der Apotheke auf ſeine Rech- nung machen ließ, und ſich daher in Schulden ſteckte, die ihm hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht darauf an, bei ſolchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein- genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht ſagen, daß in ſolchen Faͤllen innerer Trieb zur Wohlthaͤtigkeit ſeine Handlun- gen leitete, nein! es war auch ein gewiſſer Leichtſinn und Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwaͤche des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end- lich durch viele ſchwere Proben genugſam kennen lernte. Daß er aber auf dieſe Weiſe eine ſehr ausgebreitete Praxis bekam, iſt kein Wunder, er hatte immer uͤberfluͤſſig zu thun, aber ſeine Muͤhe trug wenig ein. Chriſtine haͤrmte ſich auch daruͤber ab, denn ſie war ſehr ſparſam, und er ſagte ihr nichts davon, wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwuͤrfe zu hoͤren, denn er glaubte gewiß, Gott wuͤrde ihn auf andere Weiſe dafuͤr ſegnen. Sonſt waren Beide ſehr maͤßig in Nah- rung und Kleidung, ſie begnuͤgten ſich blos mit dem, was der aͤußerſte Wohlſtand erforderte.
Chriſtine wurde alſo immer ſchlimmer, und Stilling glaubte nun gewiß, er wuͤrde ſie verlieren muͤſſen. An einem Vormittag, als er am Bette ſaß und ihr aufwartete, fing ihr der Odem auf Einmal an ſtill zu ſtehen, ſie reckte die Arme
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chen des Morgens fiel ihm die Frage wie ein Centner ſchwer
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doch taͤglich noch froͤmmere Leute, die mit dem bitterſten Man-
gel rangen, und kaum Brod genug hatten, den Hunger zu ſtil-
len; was konnte ihn alſo anders troͤſten, als ein unbedingtes
Hingeben an die Barmherzigkeit des himmliſchen Vaters, der
ihn nicht wuͤrde uͤber Vermoͤgen verſucht werden laſſen?
Dazu kam noch ein Umſtand: er hatte den Grundſatz, daß
jeder Chriſt, und beſonders der Arzt, ohne zu vernuͤnfteln,
blos im Vertrauen auf Gott, wohlthaͤtig ſeyn muͤſſe: dadurch
beg__g er nun den großen Fehler, daß er den geheimen Haus-
armen oͤfters die Arzneimittel in der Apotheke auf ſeine Rech-
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hernach manchen Kummer machten; auch kam es ihm nicht
darauf an, bei ſolchen Gelegenheiten das Geld, welches er ein-
genommen hatte, hinzugeben. Ich kann nicht ſagen, daß in
ſolchen Faͤllen innerer Trieb zur Wohlthaͤtigkeit ſeine Handlun-
gen leitete, nein! es war auch ein gewiſſer Leichtſinn und
Nichtachtung des Geldes damit verbunden; welche Schwaͤche
des Charakters Stilling damals noch nicht kannte, aber end-
lich durch viele ſchwere Proben genugſam kennen lernte. Daß
er aber auf dieſe Weiſe eine ſehr ausgebreitete Praxis bekam,
iſt kein Wunder, er hatte immer uͤberfluͤſſig zu thun, aber ſeine
Muͤhe trug wenig ein. Chriſtine haͤrmte ſich auch daruͤber
ab, denn ſie war ſehr ſparſam, und er ſagte ihr nichts davon,
wenn er irgend Jemand etwas gab, um keine Vorwuͤrfe zu
hoͤren, denn er glaubte gewiß, Gott wuͤrde ihn auf andere
Weiſe dafuͤr ſegnen. Sonſt waren Beide ſehr maͤßig in Nah-
rung und Kleidung, ſie begnuͤgten ſich blos mit dem, was der
aͤußerſte Wohlſtand erforderte.
Chriſtine wurde alſo immer ſchlimmer, und Stilling
glaubte nun gewiß, er wuͤrde ſie verlieren muͤſſen. An einem
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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