In dieser Lage lebte Doktor Stilling unter mancherlei Abwechslungen fort; am Ende des 1772sten Jahres machte er seine Hausrechnung; er zog die Bilanz zwischen Einnahme und Ausgabe, oder vielmehr Einkommen und Aufwand, und fand nun zu seinem größten Leidwesen, daß er über zweihun- dert Thaler mehr Schulden hatte, und das ging so zu: in Schönenthal herrschte der Gebrauch, daß man das, was man in der Stadt verdient, auf Rechnung schreibt; da man also kein Geld einnimmt, so kann man auch keines ausgeben; daher holt man bei den Krämern seine Nothdurft, und läßt sie anschreiben: am Schluß des Jahres macht man seine Rechnungen und theilt sie aus, und so empfängt man Rech- nungen und bezahlt sie; nun hatte Stilling zwar so viel verdient, als er verzehrt hatte, allein seine Forderungen waren in so kleinen Theilchen zerstreut, daß er sie unmöglich alle eintreiben konnte; er blieb also stecken: die Krämer wurden nicht bezahlt, und so sank sein Kredit noch mehr; daher war sein Kummer unaussprechlich. Die tägliche baare Ausgabe bestritt er mit den Einnahmen von auswärtigen Patienten, diese waren aber so knapp zugeschnitten, daß er blos die Nothdurft hatte, und öfters auf die äußerste Probe gesetzt wurde, wo ihn aber doch die Vorsehung nie verließ, sondern ihm, wie ehemals, sichtbar und wunderbarer Weise heraus- half; unter hundert Beispielen eins:
In Schönenthal werden lauter Steinkohlen in der Küche und in den Stubenöfen gebraucht; alle diese Steinkohlen wer- den aus der benachbarten Grafschaft Mark herzugeführt; Stilling hatte also seinen Fuhrmann, der ihm von Zeit zu Zeit eine Pferdsladung brachte, welche er aber immer auf der Stelle bezahlen mußte, denn mit dem Gelde mußte der Fuhr- mann einkaufen; dieß hatte ihm auch noch nie gefehlt; denn er war immer mit dem Nöthigen versehen gewesen; einsmals kam dieser Fuhrmann an einem Nachmittag vor die Thüre gefahren, die Steinkohlen waren nöthig und der Mann konnte überhaupt nicht abgewiesen werden. Nun hatte Stilling keinen halben Gulden im Hause, und er fand auch keine Frei- heit in sich, bei einem Nachbar zu lehnen. Christine weinte,
21 *
In dieſer Lage lebte Doktor Stilling unter mancherlei Abwechslungen fort; am Ende des 1772ſten Jahres machte er ſeine Hausrechnung; er zog die Bilanz zwiſchen Einnahme und Ausgabe, oder vielmehr Einkommen und Aufwand, und fand nun zu ſeinem groͤßten Leidweſen, daß er uͤber zweihun- dert Thaler mehr Schulden hatte, und das ging ſo zu: in Schoͤnenthal herrſchte der Gebrauch, daß man das, was man in der Stadt verdient, auf Rechnung ſchreibt; da man alſo kein Geld einnimmt, ſo kann man auch keines ausgeben; daher holt man bei den Kraͤmern ſeine Nothdurft, und laͤßt ſie anſchreiben: am Schluß des Jahres macht man ſeine Rechnungen und theilt ſie aus, und ſo empfaͤngt man Rech- nungen und bezahlt ſie; nun hatte Stilling zwar ſo viel verdient, als er verzehrt hatte, allein ſeine Forderungen waren in ſo kleinen Theilchen zerſtreut, daß er ſie unmoͤglich alle eintreiben konnte; er blieb alſo ſtecken: die Kraͤmer wurden nicht bezahlt, und ſo ſank ſein Kredit noch mehr; daher war ſein Kummer unausſprechlich. Die taͤgliche baare Ausgabe beſtritt er mit den Einnahmen von auswaͤrtigen Patienten, dieſe waren aber ſo knapp zugeſchnitten, daß er blos die Nothdurft hatte, und oͤfters auf die aͤußerſte Probe geſetzt wurde, wo ihn aber doch die Vorſehung nie verließ, ſondern ihm, wie ehemals, ſichtbar und wunderbarer Weiſe heraus- half; unter hundert Beiſpielen eins:
In Schoͤnenthal werden lauter Steinkohlen in der Kuͤche und in den Stubenoͤfen gebraucht; alle dieſe Steinkohlen wer- den aus der benachbarten Grafſchaft Mark herzugefuͤhrt; Stilling hatte alſo ſeinen Fuhrmann, der ihm von Zeit zu Zeit eine Pferdsladung brachte, welche er aber immer auf der Stelle bezahlen mußte, denn mit dem Gelde mußte der Fuhr- mann einkaufen; dieß hatte ihm auch noch nie gefehlt; denn er war immer mit dem Noͤthigen verſehen geweſen; einsmals kam dieſer Fuhrmann an einem Nachmittag vor die Thuͤre gefahren, die Steinkohlen waren noͤthig und der Mann konnte uͤberhaupt nicht abgewieſen werden. Nun hatte Stilling keinen halben Gulden im Hauſe, und er fand auch keine Frei- heit in ſich, bei einem Nachbar zu lehnen. Chriſtine weinte,
21 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0319"n="311"/><p>In dieſer Lage lebte <hirendition="#g">Doktor Stilling</hi> unter mancherlei<lb/>
Abwechslungen fort; am Ende des 1772ſten Jahres machte<lb/>
er ſeine Hausrechnung; er zog die Bilanz zwiſchen Einnahme<lb/>
und Ausgabe, oder vielmehr Einkommen und Aufwand, und<lb/>
fand nun zu ſeinem groͤßten Leidweſen, daß er uͤber zweihun-<lb/>
dert Thaler mehr Schulden hatte, und das ging ſo zu: in<lb/><hirendition="#g">Schoͤnenthal</hi> herrſchte der Gebrauch, daß man das, was<lb/>
man in der Stadt verdient, auf Rechnung ſchreibt; da man<lb/>
alſo kein Geld einnimmt, ſo kann man auch keines ausgeben;<lb/>
daher holt man bei den Kraͤmern ſeine Nothdurft, und laͤßt<lb/>ſie anſchreiben: am Schluß des Jahres macht man ſeine<lb/>
Rechnungen und theilt ſie aus, und ſo empfaͤngt man Rech-<lb/>
nungen und bezahlt ſie; nun hatte <hirendition="#g">Stilling</hi> zwar ſo viel<lb/>
verdient, als er verzehrt hatte, allein ſeine Forderungen waren<lb/>
in ſo kleinen Theilchen zerſtreut, daß er ſie unmoͤglich alle<lb/>
eintreiben konnte; er blieb alſo ſtecken: die Kraͤmer wurden<lb/>
nicht bezahlt, und ſo ſank ſein Kredit noch mehr; daher war<lb/>ſein Kummer unausſprechlich. Die taͤgliche baare Ausgabe<lb/>
beſtritt er mit den Einnahmen von auswaͤrtigen Patienten,<lb/>
dieſe waren aber ſo knapp zugeſchnitten, daß er blos die<lb/>
Nothdurft hatte, und oͤfters auf die aͤußerſte Probe geſetzt<lb/>
wurde, wo ihn aber doch die Vorſehung <hirendition="#g">nie</hi> verließ, ſondern<lb/>
ihm, wie ehemals, ſichtbar und wunderbarer Weiſe heraus-<lb/>
half; unter hundert Beiſpielen eins:</p><lb/><p>In <hirendition="#g">Schoͤnenthal</hi> werden lauter Steinkohlen in der Kuͤche<lb/>
und in den Stubenoͤfen gebraucht; alle dieſe Steinkohlen wer-<lb/>
den aus der benachbarten Grafſchaft <hirendition="#g">Mark</hi> herzugefuͤhrt;<lb/><hirendition="#g">Stilling</hi> hatte alſo ſeinen Fuhrmann, der ihm von Zeit zu<lb/>
Zeit eine Pferdsladung brachte, welche er aber immer auf der<lb/>
Stelle bezahlen mußte, denn mit dem Gelde mußte der Fuhr-<lb/>
mann einkaufen; dieß hatte ihm auch noch nie gefehlt; denn<lb/>
er war immer mit dem Noͤthigen verſehen geweſen; einsmals<lb/>
kam dieſer Fuhrmann an einem Nachmittag vor die Thuͤre<lb/>
gefahren, die Steinkohlen waren noͤthig und der Mann konnte<lb/>
uͤberhaupt nicht abgewieſen werden. Nun hatte <hirendition="#g">Stilling</hi><lb/>
keinen halben Gulden im Hauſe, und er fand auch keine Frei-<lb/>
heit in ſich, bei einem Nachbar zu lehnen. <hirendition="#g">Chriſtine</hi> weinte,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">21 *</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[311/0319]
In dieſer Lage lebte Doktor Stilling unter mancherlei
Abwechslungen fort; am Ende des 1772ſten Jahres machte
er ſeine Hausrechnung; er zog die Bilanz zwiſchen Einnahme
und Ausgabe, oder vielmehr Einkommen und Aufwand, und
fand nun zu ſeinem groͤßten Leidweſen, daß er uͤber zweihun-
dert Thaler mehr Schulden hatte, und das ging ſo zu: in
Schoͤnenthal herrſchte der Gebrauch, daß man das, was
man in der Stadt verdient, auf Rechnung ſchreibt; da man
alſo kein Geld einnimmt, ſo kann man auch keines ausgeben;
daher holt man bei den Kraͤmern ſeine Nothdurft, und laͤßt
ſie anſchreiben: am Schluß des Jahres macht man ſeine
Rechnungen und theilt ſie aus, und ſo empfaͤngt man Rech-
nungen und bezahlt ſie; nun hatte Stilling zwar ſo viel
verdient, als er verzehrt hatte, allein ſeine Forderungen waren
in ſo kleinen Theilchen zerſtreut, daß er ſie unmoͤglich alle
eintreiben konnte; er blieb alſo ſtecken: die Kraͤmer wurden
nicht bezahlt, und ſo ſank ſein Kredit noch mehr; daher war
ſein Kummer unausſprechlich. Die taͤgliche baare Ausgabe
beſtritt er mit den Einnahmen von auswaͤrtigen Patienten,
dieſe waren aber ſo knapp zugeſchnitten, daß er blos die
Nothdurft hatte, und oͤfters auf die aͤußerſte Probe geſetzt
wurde, wo ihn aber doch die Vorſehung nie verließ, ſondern
ihm, wie ehemals, ſichtbar und wunderbarer Weiſe heraus-
half; unter hundert Beiſpielen eins:
In Schoͤnenthal werden lauter Steinkohlen in der Kuͤche
und in den Stubenoͤfen gebraucht; alle dieſe Steinkohlen wer-
den aus der benachbarten Grafſchaft Mark herzugefuͤhrt;
Stilling hatte alſo ſeinen Fuhrmann, der ihm von Zeit zu
Zeit eine Pferdsladung brachte, welche er aber immer auf der
Stelle bezahlen mußte, denn mit dem Gelde mußte der Fuhr-
mann einkaufen; dieß hatte ihm auch noch nie gefehlt; denn
er war immer mit dem Noͤthigen verſehen geweſen; einsmals
kam dieſer Fuhrmann an einem Nachmittag vor die Thuͤre
gefahren, die Steinkohlen waren noͤthig und der Mann konnte
uͤberhaupt nicht abgewieſen werden. Nun hatte Stilling
keinen halben Gulden im Hauſe, und er fand auch keine Frei-
heit in ſich, bei einem Nachbar zu lehnen. Chriſtine weinte,
21 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/319>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.