gen ihm selten Etwas ein, die Mehrsten waren arm, denn diese operirte er umsonst, und nur selten kam Jemand, der Et- was bezahlen konnte, seine Umstände wurden also wenig ge- bessert. Sogar nahmen Viele dadurch Anlaß, ihn mit Opera- teurs und Quacksalbern in Eine Klasse zu setzen. Gebt nur Acht! sagten sie, bald wird er anfangen, von Stadt zu Stadt zu ziehen und einen Orden anzuhängen!
Im folgenden Herbst im September kam die Frau eines der vornehmsten und reichsten und zugleich sehr braven Kaufman- nes, oder vielmehr Kapitalisten in Schönenthal zum ersten- mal ins Kindbett; die Geburt war sehr schwer, die arme Krei- sende hatte schon zweimal vier und zwanzig Stunden in den Wehen gelegen und sich abgearbeitet, ohne daß sich noch die geringste Hoffnung zur Entbindung zeigte. Herr Doktor Dink- ler, als Hausarzt, schlug Stillingen zur Hülfe vor, er wurde also auch gerufen; dieß war des Abends um 6 Uhr. Nachdem er die Sache gehörig untersucht hatte, so fand er, daß das Angesicht des Kindes oberwärts gerichtet, und daß der Kopf gegen den Durchmesser des Beckens so groß war, daß er sich nicht einmal die Zange anzulegen traute; er sahe also keinen andern Weg, als auf der Fontenelle den Kopf zu öffnen, dann ihn zusammen zu drücken und es so herauszu- ziehen; denn an den Kaiserschnitt war nicht zu denken, beson- ders da die gegründete Vermuthung da war, das Kind sey schon todt. Um sich davon noch gewisser zu überzeugen, war- tete er bis den Abend um neun Uhr, jetzt fand er den Kopf welk und zusammengefallen, er fühlte auch keine Spuren des Pulses mehr auf der Fontenelle, er folgte also seinem Vor- satz, öffnete den Kopf, preßte ihn zusammen, und bei der er- sten Wehe wurde das Kind geboren. Alles ging hernach gut von statten, die Frau Kindbetterin wurde bald wieder voll- kommen gesund. Was dergleichen Arbeiten den empfindsamen Stilling für Herzensangst, Thränen, Mühe und Mitleiden kosteten, das läßt sich nicht beschreiben, allein er fühlte seine Pflicht, er mußte fort, wenn er gerufen wurde; er erschrack daher, daß ihm das Herz pochte, wenn man des Nachts an seine Thür klopfte, und dieses hat sich so fest in seine Ner-
gen ihm ſelten Etwas ein, die Mehrſten waren arm, denn dieſe operirte er umſonſt, und nur ſelten kam Jemand, der Et- was bezahlen konnte, ſeine Umſtaͤnde wurden alſo wenig ge- beſſert. Sogar nahmen Viele dadurch Anlaß, ihn mit Opera- teurs und Quackſalbern in Eine Klaſſe zu ſetzen. Gebt nur Acht! ſagten ſie, bald wird er anfangen, von Stadt zu Stadt zu ziehen und einen Orden anzuhaͤngen!
Im folgenden Herbſt im September kam die Frau eines der vornehmſten und reichſten und zugleich ſehr braven Kaufman- nes, oder vielmehr Kapitaliſten in Schoͤnenthal zum erſten- mal ins Kindbett; die Geburt war ſehr ſchwer, die arme Krei- ſende hatte ſchon zweimal vier und zwanzig Stunden in den Wehen gelegen und ſich abgearbeitet, ohne daß ſich noch die geringſte Hoffnung zur Entbindung zeigte. Herr Doktor Dink- ler, als Hausarzt, ſchlug Stillingen zur Huͤlfe vor, er wurde alſo auch gerufen; dieß war des Abends um 6 Uhr. Nachdem er die Sache gehoͤrig unterſucht hatte, ſo fand er, daß das Angeſicht des Kindes oberwaͤrts gerichtet, und daß der Kopf gegen den Durchmeſſer des Beckens ſo groß war, daß er ſich nicht einmal die Zange anzulegen traute; er ſahe alſo keinen andern Weg, als auf der Fontenelle den Kopf zu oͤffnen, dann ihn zuſammen zu druͤcken und es ſo herauszu- ziehen; denn an den Kaiſerſchnitt war nicht zu denken, beſon- ders da die gegruͤndete Vermuthung da war, das Kind ſey ſchon todt. Um ſich davon noch gewiſſer zu uͤberzeugen, war- tete er bis den Abend um neun Uhr, jetzt fand er den Kopf welk und zuſammengefallen, er fuͤhlte auch keine Spuren des Pulſes mehr auf der Fontenelle, er folgte alſo ſeinem Vor- ſatz, oͤffnete den Kopf, preßte ihn zuſammen, und bei der er- ſten Wehe wurde das Kind geboren. Alles ging hernach gut von ſtatten, die Frau Kindbetterin wurde bald wieder voll- kommen geſund. Was dergleichen Arbeiten den empfindſamen Stilling fuͤr Herzensangſt, Thraͤnen, Muͤhe und Mitleiden koſteten, das laͤßt ſich nicht beſchreiben, allein er fuͤhlte ſeine Pflicht, er mußte fort, wenn er gerufen wurde; er erſchrack daher, daß ihm das Herz pochte, wenn man des Nachts an ſeine Thuͤr klopfte, und dieſes hat ſich ſo feſt in ſeine Ner-
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gen ihm ſelten Etwas ein, die Mehrſten waren arm, denn
dieſe operirte er umſonſt, und nur ſelten kam Jemand, der Et-
was bezahlen konnte, ſeine Umſtaͤnde wurden alſo wenig ge-
beſſert. Sogar nahmen Viele dadurch Anlaß, ihn mit Opera-
teurs und Quackſalbern in Eine Klaſſe zu ſetzen. Gebt nur
Acht! ſagten ſie, bald wird er anfangen, von Stadt zu Stadt
zu ziehen und einen Orden anzuhaͤngen!
Im folgenden Herbſt im September kam die Frau eines der
vornehmſten und reichſten und zugleich ſehr braven Kaufman-
nes, oder vielmehr Kapitaliſten in Schoͤnenthal zum erſten-
mal ins Kindbett; die Geburt war ſehr ſchwer, die arme Krei-
ſende hatte ſchon zweimal vier und zwanzig Stunden in den
Wehen gelegen und ſich abgearbeitet, ohne daß ſich noch die
geringſte Hoffnung zur Entbindung zeigte. Herr Doktor Dink-
ler, als Hausarzt, ſchlug Stillingen zur Huͤlfe vor, er
wurde alſo auch gerufen; dieß war des Abends um 6 Uhr.
Nachdem er die Sache gehoͤrig unterſucht hatte, ſo fand er,
daß das Angeſicht des Kindes oberwaͤrts gerichtet, und daß
der Kopf gegen den Durchmeſſer des Beckens ſo groß war,
daß er ſich nicht einmal die Zange anzulegen traute; er ſahe
alſo keinen andern Weg, als auf der Fontenelle den Kopf zu
oͤffnen, dann ihn zuſammen zu druͤcken und es ſo herauszu-
ziehen; denn an den Kaiſerſchnitt war nicht zu denken, beſon-
ders da die gegruͤndete Vermuthung da war, das Kind ſey
ſchon todt. Um ſich davon noch gewiſſer zu uͤberzeugen, war-
tete er bis den Abend um neun Uhr, jetzt fand er den Kopf
welk und zuſammengefallen, er fuͤhlte auch keine Spuren des
Pulſes mehr auf der Fontenelle, er folgte alſo ſeinem Vor-
ſatz, oͤffnete den Kopf, preßte ihn zuſammen, und bei der er-
ſten Wehe wurde das Kind geboren. Alles ging hernach gut
von ſtatten, die Frau Kindbetterin wurde bald wieder voll-
kommen geſund. Was dergleichen Arbeiten den empfindſamen
Stilling fuͤr Herzensangſt, Thraͤnen, Muͤhe und Mitleiden
koſteten, das laͤßt ſich nicht beſchreiben, allein er fuͤhlte ſeine
Pflicht, er mußte fort, wenn er gerufen wurde; er erſchrack
daher, daß ihm das Herz pochte, wenn man des Nachts an
ſeine Thuͤr klopfte, und dieſes hat ſich ſo feſt in ſeine Ner-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/324>, abgerufen am 22.11.2024.
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