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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Menschen gaudire. Die Schönenthaler glaubten, Gott sey
bei uns! der Mensch müsse nicht recht klug seyn; Stilling
aber und Andere, die ihn und sein Wesen besser kannten, mein-
ten oft vor Lachen zu bersten, wenn ihn einer mit starren und
gleichsam bemitleidenden Augen ansah, und er dann mit gro-
ßem hellem Blick ihn darnieder schoß.

Diese Scene währte, ziemlich tumultuarisch, kaum eine
halbe Stunde, als Lavater, Hasenkamp, Collenbusch,
der junge Kaufmann und Stilling zusammen aufbrachen,
und in der heitern Abendsonne das paradiesische Thal hinauf-
wanderten, um den oben berührten vortrefflichen Theodor
Müller
zu besuchen. Dieser Spaziergang ist Stillingen
unvergeßlich, Lavater lernte ihn und er den Lavatern
kennen, sie redeten viel zusammen und gewannen sich lieb.
Vor dem Dorfe, in welchem Müller wohnte, kehrte Stil-
ling
mit seinem Freunde wieder um und nach Schönenthal
zurück; während der Zeit waren Göthe und Juvenal nach
Rüsselstein verreist, des andern Morgens kam Lavater,
er besuchte Stilling, ließ ihn für seine Physiognomik
zeichnen, und reiste dann wieder fort.

Dieser merkwürdige Zeitpunkt in Stillings Leben mußte
umständlich berührt werden; er änderte zwar nichts in seinen
Umständen, aber er legte den Grund zu allerhand wichtigen
Lenkungen seiner künftigen Schicksale. Noch Eines habe ich
vergessen zu bemerken: Göthe nahm den Aufsatz von Stil-
lings
Lebensgeschichte mit, um ihn zu Hause mit Muse le-
sen zu kennen: wir werden an seinem Orte finden, wie vor-
trefflich dieser geringscheinende Zufall, und also Göthen's Be-
such von der Vorsehung benutzt worden.



Im Herbst dieses 1772sten Jahres brachte ein Kaufmann
aus Schönenthal einen blinden Kaufmann, Namens Bauch,
von Sonnenburg aus Sachsen, aus der Frankfurter
Messe mit, in der Hoffnung, Stilling würde ihn kuriren
können. Stilling besah ihn, seine Pupillen waren weit,
aber doch noch etwas beweglich, der Anfang des grauen Staars

Menſchen gaudire. Die Schoͤnenthaler glaubten, Gott ſey
bei uns! der Menſch muͤſſe nicht recht klug ſeyn; Stilling
aber und Andere, die ihn und ſein Weſen beſſer kannten, mein-
ten oft vor Lachen zu berſten, wenn ihn einer mit ſtarren und
gleichſam bemitleidenden Augen anſah, und er dann mit gro-
ßem hellem Blick ihn darnieder ſchoß.

Dieſe Scene waͤhrte, ziemlich tumultuariſch, kaum eine
halbe Stunde, als Lavater, Haſenkamp, Collenbuſch,
der junge Kaufmann und Stilling zuſammen aufbrachen,
und in der heitern Abendſonne das paradieſiſche Thal hinauf-
wanderten, um den oben beruͤhrten vortrefflichen Theodor
Muͤller
zu beſuchen. Dieſer Spaziergang iſt Stillingen
unvergeßlich, Lavater lernte ihn und er den Lavatern
kennen, ſie redeten viel zuſammen und gewannen ſich lieb.
Vor dem Dorfe, in welchem Muͤller wohnte, kehrte Stil-
ling
mit ſeinem Freunde wieder um und nach Schoͤnenthal
zuruͤck; waͤhrend der Zeit waren Goͤthe und Juvenal nach
Ruͤſſelſtein verreist, des andern Morgens kam Lavater,
er beſuchte Stilling, ließ ihn fuͤr ſeine Phyſiognomik
zeichnen, und reiste dann wieder fort.

Dieſer merkwuͤrdige Zeitpunkt in Stillings Leben mußte
umſtaͤndlich beruͤhrt werden; er aͤnderte zwar nichts in ſeinen
Umſtaͤnden, aber er legte den Grund zu allerhand wichtigen
Lenkungen ſeiner kuͤnftigen Schickſale. Noch Eines habe ich
vergeſſen zu bemerken: Goͤthe nahm den Aufſatz von Stil-
lings
Lebensgeſchichte mit, um ihn zu Hauſe mit Muſe le-
ſen zu kennen: wir werden an ſeinem Orte finden, wie vor-
trefflich dieſer geringſcheinende Zufall, und alſo Goͤthen’s Be-
ſuch von der Vorſehung benutzt worden.



Im Herbſt dieſes 1772ſten Jahres brachte ein Kaufmann
aus Schoͤnenthal einen blinden Kaufmann, Namens Bauch,
von Sonnenburg aus Sachſen, aus der Frankfurter
Meſſe mit, in der Hoffnung, Stilling wuͤrde ihn kuriren
koͤnnen. Stilling beſah ihn, ſeine Pupillen waren weit,
aber doch noch etwas beweglich, der Anfang des grauen Staars

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[326/0334] Menſchen gaudire. Die Schoͤnenthaler glaubten, Gott ſey bei uns! der Menſch muͤſſe nicht recht klug ſeyn; Stilling aber und Andere, die ihn und ſein Weſen beſſer kannten, mein- ten oft vor Lachen zu berſten, wenn ihn einer mit ſtarren und gleichſam bemitleidenden Augen anſah, und er dann mit gro- ßem hellem Blick ihn darnieder ſchoß. Dieſe Scene waͤhrte, ziemlich tumultuariſch, kaum eine halbe Stunde, als Lavater, Haſenkamp, Collenbuſch, der junge Kaufmann und Stilling zuſammen aufbrachen, und in der heitern Abendſonne das paradieſiſche Thal hinauf- wanderten, um den oben beruͤhrten vortrefflichen Theodor Muͤller zu beſuchen. Dieſer Spaziergang iſt Stillingen unvergeßlich, Lavater lernte ihn und er den Lavatern kennen, ſie redeten viel zuſammen und gewannen ſich lieb. Vor dem Dorfe, in welchem Muͤller wohnte, kehrte Stil- ling mit ſeinem Freunde wieder um und nach Schoͤnenthal zuruͤck; waͤhrend der Zeit waren Goͤthe und Juvenal nach Ruͤſſelſtein verreist, des andern Morgens kam Lavater, er beſuchte Stilling, ließ ihn fuͤr ſeine Phyſiognomik zeichnen, und reiste dann wieder fort. Dieſer merkwuͤrdige Zeitpunkt in Stillings Leben mußte umſtaͤndlich beruͤhrt werden; er aͤnderte zwar nichts in ſeinen Umſtaͤnden, aber er legte den Grund zu allerhand wichtigen Lenkungen ſeiner kuͤnftigen Schickſale. Noch Eines habe ich vergeſſen zu bemerken: Goͤthe nahm den Aufſatz von Stil- lings Lebensgeſchichte mit, um ihn zu Hauſe mit Muſe le- ſen zu kennen: wir werden an ſeinem Orte finden, wie vor- trefflich dieſer geringſcheinende Zufall, und alſo Goͤthen’s Be- ſuch von der Vorſehung benutzt worden. Im Herbſt dieſes 1772ſten Jahres brachte ein Kaufmann aus Schoͤnenthal einen blinden Kaufmann, Namens Bauch, von Sonnenburg aus Sachſen, aus der Frankfurter Meſſe mit, in der Hoffnung, Stilling wuͤrde ihn kuriren koͤnnen. Stilling beſah ihn, ſeine Pupillen waren weit, aber doch noch etwas beweglich, der Anfang des grauen Staars

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/334>, abgerufen am 22.11.2024.