das ganze Thal überschwemmte; er glaubte den Rheinstrom vor sich zu sehen, außer daß hie und da ein Strauch hervor- gukte. Stilling und sein Begleiter klagten sich wechselweise ihren Kummer; auch hatte er seiner Christine versprochen, von Leindorf aus, wo sein Vater wohnte, zu schreiben, denn sein Weg führte ihn gerade durch sein Vaterland. Nun wußte er, daß Christine am bestimmten Tage Briefe erwarte, von hier aus gab's keine Gelegenheit zu Versendung derselben, er mußte also fort, oder besorgen, daß sie aus Angst Zufälle be- kommen und wieder gefährlich krank werden würde.
In dieser Verlegenheit bemerkte er, daß der Plankenzaun, welcher unter der Straße her bis an die Brücke ging, noch immer einen Schuh hoch über das Wasser emporragte; dieß machte ihm Muth; er beschloß also, seinen Begleiter hinter sich auf's Pferd zu nehmen und längs dem Zaun auf die Brücke zuzureiten.
Im Wirthshause wurde Mittag gehalten; hier traf er eine Menge Fuhrleute an, welche das Fallen des Wassers erwar- teten, und ihm Alle riethen, sich nicht zu wagen: allein das half nichts; sein rastloser und immer fortstrebender Geist war nicht zum Warten gestimmt, wo das Wirken oder Ruhen blos auf ihn ankam; er nahm also den Bedienten hinter sich auf's Pferd, setzte in die Fluthen und kämpfte sich glück- lich durch!
Nach ein paar Stunden war Stilling auf der Höhe, von welcher er die Gebirge und Fluren seines Vaterlandes vor sich sah. Dort lag der hohe Kindelsberg südostwärts vor ihm, ostwärts, am Fuß desselben, sahe er die Lichthäuser Schornsteine rauchen, und er entdeckte bald unter denselben, welcher seinem Oheim Johann Stilling zugehörte; ein süßer Schauer durchzitterte alle seine Glieder, und alle Ju- gendscenen gingen seiner Seele vorüber; sie däuchten ihm gol- dene Zeiten zu seyn. Was hab' ich denn nun errungen? dachte er bei sich selbst -- nichts anders, als ein glänzendes Elend! -- ich bin nun freilich ein Mann geworden, der an Ehre und Ansehen alle seine Vorfahren übertrifft, allein was hilft mir das Alles, es hängt ein spitziges Schwert an einem
das ganze Thal uͤberſchwemmte; er glaubte den Rheinſtrom vor ſich zu ſehen, außer daß hie und da ein Strauch hervor- gukte. Stilling und ſein Begleiter klagten ſich wechſelweiſe ihren Kummer; auch hatte er ſeiner Chriſtine verſprochen, von Leindorf aus, wo ſein Vater wohnte, zu ſchreiben, denn ſein Weg fuͤhrte ihn gerade durch ſein Vaterland. Nun wußte er, daß Chriſtine am beſtimmten Tage Briefe erwarte, von hier aus gab’s keine Gelegenheit zu Verſendung derſelben, er mußte alſo fort, oder beſorgen, daß ſie aus Angſt Zufaͤlle be- kommen und wieder gefaͤhrlich krank werden wuͤrde.
In dieſer Verlegenheit bemerkte er, daß der Plankenzaun, welcher unter der Straße her bis an die Bruͤcke ging, noch immer einen Schuh hoch uͤber das Waſſer emporragte; dieß machte ihm Muth; er beſchloß alſo, ſeinen Begleiter hinter ſich auf’s Pferd zu nehmen und laͤngs dem Zaun auf die Bruͤcke zuzureiten.
Im Wirthshauſe wurde Mittag gehalten; hier traf er eine Menge Fuhrleute an, welche das Fallen des Waſſers erwar- teten, und ihm Alle riethen, ſich nicht zu wagen: allein das half nichts; ſein raſtloſer und immer fortſtrebender Geiſt war nicht zum Warten geſtimmt, wo das Wirken oder Ruhen blos auf ihn ankam; er nahm alſo den Bedienten hinter ſich auf’s Pferd, ſetzte in die Fluthen und kaͤmpfte ſich gluͤck- lich durch!
Nach ein paar Stunden war Stilling auf der Hoͤhe, von welcher er die Gebirge und Fluren ſeines Vaterlandes vor ſich ſah. Dort lag der hohe Kindelsberg ſuͤdoſtwaͤrts vor ihm, oſtwaͤrts, am Fuß deſſelben, ſahe er die Lichthaͤuſer Schornſteine rauchen, und er entdeckte bald unter denſelben, welcher ſeinem Oheim Johann Stilling zugehoͤrte; ein ſuͤßer Schauer durchzitterte alle ſeine Glieder, und alle Ju- gendſcenen gingen ſeiner Seele voruͤber; ſie daͤuchten ihm gol- dene Zeiten zu ſeyn. Was hab’ ich denn nun errungen? dachte er bei ſich ſelbſt — nichts anders, als ein glaͤnzendes Elend! — ich bin nun freilich ein Mann geworden, der an Ehre und Anſehen alle ſeine Vorfahren uͤbertrifft, allein was hilft mir das Alles, es haͤngt ein ſpitziges Schwert an einem
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das ganze Thal uͤberſchwemmte; er glaubte den Rheinſtrom
vor ſich zu ſehen, außer daß hie und da ein Strauch hervor-
gukte. Stilling und ſein Begleiter klagten ſich wechſelweiſe
ihren Kummer; auch hatte er ſeiner Chriſtine verſprochen,
von Leindorf aus, wo ſein Vater wohnte, zu ſchreiben, denn
ſein Weg fuͤhrte ihn gerade durch ſein Vaterland. Nun wußte
er, daß Chriſtine am beſtimmten Tage Briefe erwarte, von
hier aus gab’s keine Gelegenheit zu Verſendung derſelben, er
mußte alſo fort, oder beſorgen, daß ſie aus Angſt Zufaͤlle be-
kommen und wieder gefaͤhrlich krank werden wuͤrde.
In dieſer Verlegenheit bemerkte er, daß der Plankenzaun,
welcher unter der Straße her bis an die Bruͤcke ging, noch
immer einen Schuh hoch uͤber das Waſſer emporragte; dieß
machte ihm Muth; er beſchloß alſo, ſeinen Begleiter hinter
ſich auf’s Pferd zu nehmen und laͤngs dem Zaun auf die Bruͤcke
zuzureiten.
Im Wirthshauſe wurde Mittag gehalten; hier traf er eine
Menge Fuhrleute an, welche das Fallen des Waſſers erwar-
teten, und ihm Alle riethen, ſich nicht zu wagen: allein das
half nichts; ſein raſtloſer und immer fortſtrebender Geiſt war
nicht zum Warten geſtimmt, wo das Wirken oder Ruhen
blos auf ihn ankam; er nahm alſo den Bedienten hinter ſich
auf’s Pferd, ſetzte in die Fluthen und kaͤmpfte ſich gluͤck-
lich durch!
Nach ein paar Stunden war Stilling auf der Hoͤhe,
von welcher er die Gebirge und Fluren ſeines Vaterlandes
vor ſich ſah. Dort lag der hohe Kindelsberg ſuͤdoſtwaͤrts vor
ihm, oſtwaͤrts, am Fuß deſſelben, ſahe er die Lichthaͤuſer
Schornſteine rauchen, und er entdeckte bald unter denſelben,
welcher ſeinem Oheim Johann Stilling zugehoͤrte; ein
ſuͤßer Schauer durchzitterte alle ſeine Glieder, und alle Ju-
gendſcenen gingen ſeiner Seele voruͤber; ſie daͤuchten ihm gol-
dene Zeiten zu ſeyn. Was hab’ ich denn nun errungen? dachte
er bei ſich ſelbſt — nichts anders, als ein glaͤnzendes Elend!
— ich bin nun freilich ein Mann geworden, der an Ehre
und Anſehen alle ſeine Vorfahren uͤbertrifft, allein was hilft
mir das Alles, es haͤngt ein ſpitziges Schwert an einem
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/338>, abgerufen am 22.11.2024.
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