Nach etlichen Wochen, im Anfang des Oktobers, stand Stilling einmal des Abends auf dem Hausgang am Fen- ster, es war schon vollkommen Nacht, und er betete nach sei- ner Gewohnheit heimlich zu Gott; auf Einmal fühlte er eine tiefe Beruhigung, einen unaussprechlichen Seelenfrieden, und darauf eine tiefe Ergebung in den Willen Gottes, er fühlte noch alle seine Leiden, aber auch Kraft genug, sie zu ertragen. Er ging darauf ins Krankenzimmer und nahte sich dem Bette, Christine aber winkte ihm, zurück zu bleiben, und nun sahe er, daß sie ernstlich in der Stille betete, endlich rief sie ihm, winkte ihm zu sitzen und wendete sich schwer, um sich gegen ihn über auf die Seite zu legen; dann sah sie ihn mit einem unaussprechlichen Blick an, und sagte: "Ich sterbe, liebster Engel, fasse dich, ich sterbe gern, unser zehnjähriger Ehestand war lauter Leiden, es gefällt Gott nicht, daß ich dich aus deinem Kummer erlöst sehen soll, aber Er wird dich erretten, sey du getrost und stille, Gott wird dich nicht verlassen! -- meine zwei Kinder empfehl ich dir nicht, du bist Vater, und Gott wird für sie sorgen." Dann machte sie noch verschie- dene Verordnungen, wendete sich wieder um, und war nun ruhig. Von nun an redete Stilling öfters mit ihr vom Sterben, von ihren Erwartungen nach dem Tode, und that sein Möglichstes, um sie zu ihrem Ende vorzubereiten. Manchmal fanden sich noch Stunden der Angst, und dann wünschte sie einen sanften Tod, und zwar am Tage, denn sie scheute die Nacht. Sein Kollege Siegfried besuchte sie oft, denn seine Gattin konnte wegen Kränklichkeit, Schwan- gerschaft und Mitleiden selten, und am Ende gar nicht mehr kommen, und half ihm also kämpfen und trösten.
Endlich, endlich nahte sie sich ihrer Auflösung; den 17. Ok- tober, des Abends, bemerkte er die Vorboten des Todes: gegen eilf Uhr legte er sich gänzlich ermattet in ein Neben- zimmer und ruhte halb schlummernd in einer Betäubung; um fünf Uhr des Morgens stand er wieder auf und fand seine liebe Sterbende sehr ruhig und heiter. Nun habe ich über- wunden! rief sie ihm entgegen; jetzt sehe ich die Freuden
Nach etlichen Wochen, im Anfang des Oktobers, ſtand Stilling einmal des Abends auf dem Hausgang am Fen- ſter, es war ſchon vollkommen Nacht, und er betete nach ſei- ner Gewohnheit heimlich zu Gott; auf Einmal fuͤhlte er eine tiefe Beruhigung, einen unausſprechlichen Seelenfrieden, und darauf eine tiefe Ergebung in den Willen Gottes, er fuͤhlte noch alle ſeine Leiden, aber auch Kraft genug, ſie zu ertragen. Er ging darauf ins Krankenzimmer und nahte ſich dem Bette, Chriſtine aber winkte ihm, zuruͤck zu bleiben, und nun ſahe er, daß ſie ernſtlich in der Stille betete, endlich rief ſie ihm, winkte ihm zu ſitzen und wendete ſich ſchwer, um ſich gegen ihn uͤber auf die Seite zu legen; dann ſah ſie ihn mit einem unausſprechlichen Blick an, und ſagte: „Ich ſterbe, liebſter Engel, faſſe dich, ich ſterbe gern, unſer zehnjaͤhriger Eheſtand war lauter Leiden, es gefaͤllt Gott nicht, daß ich dich aus deinem Kummer erloͤst ſehen ſoll, aber Er wird dich erretten, ſey du getroſt und ſtille, Gott wird dich nicht verlaſſen! — meine zwei Kinder empfehl ich dir nicht, du biſt Vater, und Gott wird fuͤr ſie ſorgen.“ Dann machte ſie noch verſchie- dene Verordnungen, wendete ſich wieder um, und war nun ruhig. Von nun an redete Stilling oͤfters mit ihr vom Sterben, von ihren Erwartungen nach dem Tode, und that ſein Moͤglichſtes, um ſie zu ihrem Ende vorzubereiten. Manchmal fanden ſich noch Stunden der Angſt, und dann wuͤnſchte ſie einen ſanften Tod, und zwar am Tage, denn ſie ſcheute die Nacht. Sein Kollege Siegfried beſuchte ſie oft, denn ſeine Gattin konnte wegen Kraͤnklichkeit, Schwan- gerſchaft und Mitleiden ſelten, und am Ende gar nicht mehr kommen, und half ihm alſo kaͤmpfen und troͤſten.
Endlich, endlich nahte ſie ſich ihrer Aufloͤſung; den 17. Ok- tober, des Abends, bemerkte er die Vorboten des Todes: gegen eilf Uhr legte er ſich gaͤnzlich ermattet in ein Neben- zimmer und ruhte halb ſchlummernd in einer Betaͤubung; um fuͤnf Uhr des Morgens ſtand er wieder auf und fand ſeine liebe Sterbende ſehr ruhig und heiter. Nun habe ich uͤber- wunden! rief ſie ihm entgegen; jetzt ſehe ich die Freuden
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Nach etlichen Wochen, im Anfang des Oktobers, ſtand
Stilling einmal des Abends auf dem Hausgang am Fen-
ſter, es war ſchon vollkommen Nacht, und er betete nach ſei-
ner Gewohnheit heimlich zu Gott; auf Einmal fuͤhlte er eine
tiefe Beruhigung, einen unausſprechlichen Seelenfrieden, und
darauf eine tiefe Ergebung in den Willen Gottes, er fuͤhlte
noch alle ſeine Leiden, aber auch Kraft genug, ſie zu ertragen.
Er ging darauf ins Krankenzimmer und nahte ſich dem Bette,
Chriſtine aber winkte ihm, zuruͤck zu bleiben, und nun ſahe
er, daß ſie ernſtlich in der Stille betete, endlich rief ſie ihm,
winkte ihm zu ſitzen und wendete ſich ſchwer, um ſich gegen
ihn uͤber auf die Seite zu legen; dann ſah ſie ihn mit einem
unausſprechlichen Blick an, und ſagte: „Ich ſterbe, liebſter
Engel, faſſe dich, ich ſterbe gern, unſer zehnjaͤhriger Eheſtand
war lauter Leiden, es gefaͤllt Gott nicht, daß ich dich aus
deinem Kummer erloͤst ſehen ſoll, aber Er wird dich erretten,
ſey du getroſt und ſtille, Gott wird dich nicht verlaſſen! —
meine zwei Kinder empfehl ich dir nicht, du biſt Vater, und
Gott wird fuͤr ſie ſorgen.“ Dann machte ſie noch verſchie-
dene Verordnungen, wendete ſich wieder um, und war nun
ruhig. Von nun an redete Stilling oͤfters mit ihr vom
Sterben, von ihren Erwartungen nach dem Tode, und that
ſein Moͤglichſtes, um ſie zu ihrem Ende vorzubereiten.
Manchmal fanden ſich noch Stunden der Angſt, und dann
wuͤnſchte ſie einen ſanften Tod, und zwar am Tage, denn
ſie ſcheute die Nacht. Sein Kollege Siegfried beſuchte ſie
oft, denn ſeine Gattin konnte wegen Kraͤnklichkeit, Schwan-
gerſchaft und Mitleiden ſelten, und am Ende gar nicht mehr
kommen, und half ihm alſo kaͤmpfen und troͤſten.
Endlich, endlich nahte ſie ſich ihrer Aufloͤſung; den 17. Ok-
tober, des Abends, bemerkte er die Vorboten des Todes:
gegen eilf Uhr legte er ſich gaͤnzlich ermattet in ein Neben-
zimmer und ruhte halb ſchlummernd in einer Betaͤubung;
um fuͤnf Uhr des Morgens ſtand er wieder auf und fand ſeine
liebe Sterbende ſehr ruhig und heiter. Nun habe ich uͤber-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/395>, abgerufen am 23.11.2024.
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