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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Sie hingegen erklärte sich, sie empfinde eine unbeschreibliche
Hochachtung und Ehrfurcht gegen ihn, die sich bald in herz-
liche Liebe verwandeln würde, dann trat sie hin, und sagte
mit Würde: "Ich werde bei Ihren Kindern Ihre selige "Chri-
"stine
so ersetzen, daß ich sie ihr an jenem Tage getrost wie-
"der zuführen kann.

Jetzt schieden sie von einander; Selma fuhr noch diesen
Abend nach Reichenburg, von da wollte sie nach Kreuz-
nach
zu ihrer Mutter Schwester reisen, und dort ihre Braut-
tage verleben. So wie sie fort war, schrieb Stilling noch
einen Brief an sie, der ihr des andern Tages nachgeschickt
wurde, und nun reiste auch er froh und vergnügt nach Rit-
tersburg
zurück.

Als er nun wieder allein war und den ganzen Vorfall
genau überlegte, so fielen ihm seine vielen Schulden zentner-
schwer aufs Herz -- davon er seiner Selma kein Wort
entdeckt hatte; das war nun zwar sehr unrecht, ein in Wahr-
heit unverzeihlicher Fehler, wenn man das einen Fehler nen-
nen will, was moralisch unmöglich ist. Selma kannte Stil-
lingen
nur aus seinen Schriften und aus dem Gerücht,
sie sah ihn an dem Tage, da sie sich mit ihm versprach, das
Erstemal, hier fand das, was man zwischen jungen Leuten
Liebe heißt, nicht statt, der ganze Vorgang war Entschluß,
Ueberlegung, durch vernünftige Vorstellung entstandenes Re-
sultat; hätte er nun Etwas von seinen Schulden gesagt, so
wäre sie gewiß zurückgeschaudert; dieß fühlte Stilling
ganz -- aber er fühlte auch, was eine Entdeckung von der
Art alsdann, wenn er sie nicht wieder zurückziehen konnte,
für Folgen haben würde. Er war also in einem erschrecklichen
Kampf mit sich selbst, fand sich aber zu schwach, die Sache
zu offenbaren.

Indessen erhielt er den ersten Brief von ihr; er erstaunte
über den Geist, der ihn ausgeboren hatte, und ahnete eine
glückliche Zukunft; Freiheit der Empfindung ohne Empfindelei,
Richtigkeit und Ordnung im Denken, wohlgefaßte und reife
Entschlüsse herrschte in Jeder Zeile, und Jeder, dem er den
Brief zu lesen anvertraute, pries ihn selig.


Sie hingegen erklaͤrte ſich, ſie empfinde eine unbeſchreibliche
Hochachtung und Ehrfurcht gegen ihn, die ſich bald in herz-
liche Liebe verwandeln wuͤrde, dann trat ſie hin, und ſagte
mit Wuͤrde: „Ich werde bei Ihren Kindern Ihre ſelige „Chri-
„ſtine
ſo erſetzen, daß ich ſie ihr an jenem Tage getroſt wie-
„der zufuͤhren kann.

Jetzt ſchieden ſie von einander; Selma fuhr noch dieſen
Abend nach Reichenburg, von da wollte ſie nach Kreuz-
nach
zu ihrer Mutter Schweſter reiſen, und dort ihre Braut-
tage verleben. So wie ſie fort war, ſchrieb Stilling noch
einen Brief an ſie, der ihr des andern Tages nachgeſchickt
wurde, und nun reiste auch er froh und vergnuͤgt nach Rit-
tersburg
zuruͤck.

Als er nun wieder allein war und den ganzen Vorfall
genau uͤberlegte, ſo fielen ihm ſeine vielen Schulden zentner-
ſchwer aufs Herz — davon er ſeiner Selma kein Wort
entdeckt hatte; das war nun zwar ſehr unrecht, ein in Wahr-
heit unverzeihlicher Fehler, wenn man das einen Fehler nen-
nen will, was moraliſch unmoͤglich iſt. Selma kannte Stil-
lingen
nur aus ſeinen Schriften und aus dem Geruͤcht,
ſie ſah ihn an dem Tage, da ſie ſich mit ihm verſprach, das
Erſtemal, hier fand das, was man zwiſchen jungen Leuten
Liebe heißt, nicht ſtatt, der ganze Vorgang war Entſchluß,
Ueberlegung, durch vernuͤnftige Vorſtellung entſtandenes Re-
ſultat; haͤtte er nun Etwas von ſeinen Schulden geſagt, ſo
waͤre ſie gewiß zuruͤckgeſchaudert; dieß fuͤhlte Stilling
ganz — aber er fuͤhlte auch, was eine Entdeckung von der
Art alsdann, wenn er ſie nicht wieder zuruͤckziehen konnte,
fuͤr Folgen haben wuͤrde. Er war alſo in einem erſchrecklichen
Kampf mit ſich ſelbſt, fand ſich aber zu ſchwach, die Sache
zu offenbaren.

Indeſſen erhielt er den erſten Brief von ihr; er erſtaunte
uͤber den Geiſt, der ihn ausgeboren hatte, und ahnete eine
gluͤckliche Zukunft; Freiheit der Empfindung ohne Empfindelei,
Richtigkeit und Ordnung im Denken, wohlgefaßte und reife
Entſchluͤſſe herrſchte in Jeder Zeile, und Jeder, dem er den
Brief zu leſen anvertraute, pries ihn ſelig.


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[402/0410] Sie hingegen erklaͤrte ſich, ſie empfinde eine unbeſchreibliche Hochachtung und Ehrfurcht gegen ihn, die ſich bald in herz- liche Liebe verwandeln wuͤrde, dann trat ſie hin, und ſagte mit Wuͤrde: „Ich werde bei Ihren Kindern Ihre ſelige „Chri- „ſtine ſo erſetzen, daß ich ſie ihr an jenem Tage getroſt wie- „der zufuͤhren kann. Jetzt ſchieden ſie von einander; Selma fuhr noch dieſen Abend nach Reichenburg, von da wollte ſie nach Kreuz- nach zu ihrer Mutter Schweſter reiſen, und dort ihre Braut- tage verleben. So wie ſie fort war, ſchrieb Stilling noch einen Brief an ſie, der ihr des andern Tages nachgeſchickt wurde, und nun reiste auch er froh und vergnuͤgt nach Rit- tersburg zuruͤck. Als er nun wieder allein war und den ganzen Vorfall genau uͤberlegte, ſo fielen ihm ſeine vielen Schulden zentner- ſchwer aufs Herz — davon er ſeiner Selma kein Wort entdeckt hatte; das war nun zwar ſehr unrecht, ein in Wahr- heit unverzeihlicher Fehler, wenn man das einen Fehler nen- nen will, was moraliſch unmoͤglich iſt. Selma kannte Stil- lingen nur aus ſeinen Schriften und aus dem Geruͤcht, ſie ſah ihn an dem Tage, da ſie ſich mit ihm verſprach, das Erſtemal, hier fand das, was man zwiſchen jungen Leuten Liebe heißt, nicht ſtatt, der ganze Vorgang war Entſchluß, Ueberlegung, durch vernuͤnftige Vorſtellung entſtandenes Re- ſultat; haͤtte er nun Etwas von ſeinen Schulden geſagt, ſo waͤre ſie gewiß zuruͤckgeſchaudert; dieß fuͤhlte Stilling ganz — aber er fuͤhlte auch, was eine Entdeckung von der Art alsdann, wenn er ſie nicht wieder zuruͤckziehen konnte, fuͤr Folgen haben wuͤrde. Er war alſo in einem erſchrecklichen Kampf mit ſich ſelbſt, fand ſich aber zu ſchwach, die Sache zu offenbaren. Indeſſen erhielt er den erſten Brief von ihr; er erſtaunte uͤber den Geiſt, der ihn ausgeboren hatte, und ahnete eine gluͤckliche Zukunft; Freiheit der Empfindung ohne Empfindelei, Richtigkeit und Ordnung im Denken, wohlgefaßte und reife Entſchluͤſſe herrſchte in Jeder Zeile, und Jeder, dem er den Brief zu leſen anvertraute, pries ihn ſelig.

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/410>, abgerufen am 22.11.2024.