davon halten, was er will: nur daß er sie nicht verurtheile; denn dadurch würde er sich zugleich selbst verurtheilen.
Das Jahr 1796 war für ganz Nieder-Deutschland ein Jahr des Schreckens und des Jammers, der Uebergang der Franzosen auf das rechte Rheinufer, ihr Zug nach Fran- ken, und dann ihr Rückzug erfüllten die ganze Gegend mit namenlosem Elend; und da Hessen Frieden hatte, so flüch- tete Alles in die Marburger Gegend; als man einmal von Obrigkeits wegen die fremden Flüchtlinge, die sich daselbst auf- hielten, zählte, so fand man ihrer in Marburg und den umliegenden Ortschaften fünf und vierzig tausend. Es war erbärmlich anzusehen, wie Menschen aus allen Ständen in unabsehbaren Reihen, in Kutschen, auf Leiterwagen, auf Karren von Ochsen, Pferden, Kühen und Eseln gezogen, mit reichem oder ärmlichem Gepäcke, zu Fuß, zu Pferd, zu Eseln, barfuß, oder beschuht, oder gestiefelt, Elend und Jammer im Gesicht, die Straßen erfüllten, und mit lautem Dank den Fürsten segneten, der Friede gemacht hatte.
Stillings Gemüth wurde durch dies Alles und dann noch durch den herrschenden Geist der Zeit, der Allem, was heilig ist, Hohn spricht, unbeschreiblich gedrückt, und seine Sehnsucht für den Herrn zu wirken vermehrt. Dies Alles hatte ihn schon im Jahr 1795 bewogen, eine Zeitschrift unter dem Namen: der graue Mann, herauszugeben, welche ganz unerwartet großen Beifall fand, deßwegen sie noch im- mer fortgesetzt wird. Man liest sie nicht nur in allen Pro- vinzen Deutschlands häufig, sondern so wie das Heim- weh in allen Welttheilen. Ich selbst habe Amerikanische deutsche Zeitungen gesehen, in welchem der graue Mann stück- weise, unter versprochener Fortsetzung, eingerückt war.
Unter den vielen Flüchtlingen wurden Stilling und sei- ner Familie zwei sehr verehrungswürdige Personen besonders wichtig: der Prinz Friedrich von Anhalt-Bernburg- Schaumburg, ein wahrer Christ im reinen Sinn des Worts, miethete sich in Marburg ein Haus; dann wohnte bei ihm
davon halten, was er will: nur daß er ſie nicht verurtheile; denn dadurch wuͤrde er ſich zugleich ſelbſt verurtheilen.
Das Jahr 1796 war fuͤr ganz Nieder-Deutſchland ein Jahr des Schreckens und des Jammers, der Uebergang der Franzoſen auf das rechte Rheinufer, ihr Zug nach Fran- ken, und dann ihr Ruͤckzug erfuͤllten die ganze Gegend mit namenloſem Elend; und da Heſſen Frieden hatte, ſo fluͤch- tete Alles in die Marburger Gegend; als man einmal von Obrigkeits wegen die fremden Fluͤchtlinge, die ſich daſelbſt auf- hielten, zaͤhlte, ſo fand man ihrer in Marburg und den umliegenden Ortſchaften fuͤnf und vierzig tauſend. Es war erbaͤrmlich anzuſehen, wie Menſchen aus allen Staͤnden in unabſehbaren Reihen, in Kutſchen, auf Leiterwagen, auf Karren von Ochſen, Pferden, Kuͤhen und Eſeln gezogen, mit reichem oder aͤrmlichem Gepaͤcke, zu Fuß, zu Pferd, zu Eſeln, barfuß, oder beſchuht, oder geſtiefelt, Elend und Jammer im Geſicht, die Straßen erfuͤllten, und mit lautem Dank den Fuͤrſten ſegneten, der Friede gemacht hatte.
Stillings Gemuͤth wurde durch dies Alles und dann noch durch den herrſchenden Geiſt der Zeit, der Allem, was heilig iſt, Hohn ſpricht, unbeſchreiblich gedruͤckt, und ſeine Sehnſucht fuͤr den Herrn zu wirken vermehrt. Dies Alles hatte ihn ſchon im Jahr 1795 bewogen, eine Zeitſchrift unter dem Namen: der graue Mann, herauszugeben, welche ganz unerwartet großen Beifall fand, deßwegen ſie noch im- mer fortgeſetzt wird. Man liest ſie nicht nur in allen Pro- vinzen Deutſchlands haͤufig, ſondern ſo wie das Heim- weh in allen Welttheilen. Ich ſelbſt habe Amerikaniſche deutſche Zeitungen geſehen, in welchem der graue Mann ſtuͤck- weiſe, unter verſprochener Fortſetzung, eingeruͤckt war.
Unter den vielen Fluͤchtlingen wurden Stilling und ſei- ner Familie zwei ſehr verehrungswuͤrdige Perſonen beſonders wichtig: der Prinz Friedrich von Anhalt-Bernburg- Schaumburg, ein wahrer Chriſt im reinen Sinn des Worts, miethete ſich in Marburg ein Haus; dann wohnte bei ihm
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davon halten, was er will: nur daß er ſie nicht verurtheile;
denn dadurch wuͤrde er ſich zugleich ſelbſt verurtheilen.
Das Jahr 1796 war fuͤr ganz Nieder-Deutſchland
ein Jahr des Schreckens und des Jammers, der Uebergang
der Franzoſen auf das rechte Rheinufer, ihr Zug nach Fran-
ken, und dann ihr Ruͤckzug erfuͤllten die ganze Gegend mit
namenloſem Elend; und da Heſſen Frieden hatte, ſo fluͤch-
tete Alles in die Marburger Gegend; als man einmal von
Obrigkeits wegen die fremden Fluͤchtlinge, die ſich daſelbſt auf-
hielten, zaͤhlte, ſo fand man ihrer in Marburg und den
umliegenden Ortſchaften fuͤnf und vierzig tauſend. Es
war erbaͤrmlich anzuſehen, wie Menſchen aus allen Staͤnden
in unabſehbaren Reihen, in Kutſchen, auf Leiterwagen, auf
Karren von Ochſen, Pferden, Kuͤhen und Eſeln gezogen, mit
reichem oder aͤrmlichem Gepaͤcke, zu Fuß, zu Pferd, zu Eſeln,
barfuß, oder beſchuht, oder geſtiefelt, Elend und Jammer im
Geſicht, die Straßen erfuͤllten, und mit lautem Dank den
Fuͤrſten ſegneten, der Friede gemacht hatte.
Stillings Gemuͤth wurde durch dies Alles und dann
noch durch den herrſchenden Geiſt der Zeit, der Allem, was
heilig iſt, Hohn ſpricht, unbeſchreiblich gedruͤckt, und ſeine
Sehnſucht fuͤr den Herrn zu wirken vermehrt. Dies Alles
hatte ihn ſchon im Jahr 1795 bewogen, eine Zeitſchrift unter
dem Namen: der graue Mann, herauszugeben, welche
ganz unerwartet großen Beifall fand, deßwegen ſie noch im-
mer fortgeſetzt wird. Man liest ſie nicht nur in allen Pro-
vinzen Deutſchlands haͤufig, ſondern ſo wie das Heim-
weh in allen Welttheilen. Ich ſelbſt habe Amerikaniſche
deutſche Zeitungen geſehen, in welchem der graue Mann ſtuͤck-
weiſe, unter verſprochener Fortſetzung, eingeruͤckt war.
Unter den vielen Fluͤchtlingen wurden Stilling und ſei-
ner Familie zwei ſehr verehrungswuͤrdige Perſonen beſonders
wichtig: der Prinz Friedrich von Anhalt-Bernburg-
Schaumburg, ein wahrer Chriſt im reinen Sinn des Worts,
miethete ſich in Marburg ein Haus; dann wohnte bei ihm
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/506>, abgerufen am 22.11.2024.
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