danke wohl schwer auf dem Herzen liegen: er hatte auch seinem Sohn in seinem Elend oft die bittersten Vorwürfe über seinen Zustand gemacht und ihm gesagt, er sey ein verlorner Mensch, er tauge zu nichts, man werde nichts als Schimpf und Schande an ihm erleben, er werde sein Brod noch betteln müssen, u. s. w. Von diesem Sohn sich nun noch unter- stützen zu lassen, oder ihm nach den Fingern sehen zu müssen, das mochte dem guten Alten bei seinem Ehrgefühl wohl schwer fallen. Indessen erfuhr denn doch Stilling in Marburg nach und nach mehr von der wahren Lage seines Vaters, und ungeachtet er noch selbst eine große Schuldenlast zu tilgen hatte, so glaubte er doch, er könne sich in diesem Fall wohl über die bekannte Regel: so lange man Schulden habe, dürfe man kein Geld zu andern Zwecken verwen- den, hinaussetzen; er beschloß also, auf Ueberlegung mit Elise, wöchentlich einen Thaler zur Unterstützung des alten Vaters beizutragen, und auch zu Zeiten so viel Kaffee und Zucker hin- zuschicken, als die beiden Alten (denn die Mutter lebte auch noch) brauchten. Elise schickte auch noch außerdem dann und wann, wie sie sichere Gelegenheit fand, eine Flasche Wein zur Stärkung nach Leindorf.
Endlich starb denn auch Wilhelm Stillings zweite Frau plötzlich an einem Steckfluß, er übertrug nun seiner jüngsten Tochter, die einen Fuhrmann geheirathet hatte, die Haushaltung, und ging dann bei ihr an den Tisch. Indessen wurde es dieser armen Frau sehr sauer; ihr Mann war im- mer mit dem Pferde auf der Straße und zu arm; u[m] sich für Geld Unterstützung zu verschaffen, mußte sie vom Mor- gen bis auf den späten Abend im Felde und im Garten ar- beiten; folglich fehlte es dem guten Alten gänzlich an der ge- hörigen Pflege. Eben so wenig konnten auch die andern Kinder etwas thun, denn sie konnten sich selbst nicht retten, geschweige noch Jemand an die Hand gehen; mit Einem Wort: das Elend war groß.
Wilhelm Stilling war damals in seinem achtzigsten Jahr und recht von Herzen gesund; aber seine ohnehin alten
danke wohl ſchwer auf dem Herzen liegen: er hatte auch ſeinem Sohn in ſeinem Elend oft die bitterſten Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Zuſtand gemacht und ihm geſagt, er ſey ein verlorner Menſch, er tauge zu nichts, man werde nichts als Schimpf und Schande an ihm erleben, er werde ſein Brod noch betteln muͤſſen, u. ſ. w. Von dieſem Sohn ſich nun noch unter- ſtuͤtzen zu laſſen, oder ihm nach den Fingern ſehen zu muͤſſen, das mochte dem guten Alten bei ſeinem Ehrgefuͤhl wohl ſchwer fallen. Indeſſen erfuhr denn doch Stilling in Marburg nach und nach mehr von der wahren Lage ſeines Vaters, und ungeachtet er noch ſelbſt eine große Schuldenlaſt zu tilgen hatte, ſo glaubte er doch, er koͤnne ſich in dieſem Fall wohl uͤber die bekannte Regel: ſo lange man Schulden habe, duͤrfe man kein Geld zu andern Zwecken verwen- den, hinausſetzen; er beſchloß alſo, auf Ueberlegung mit Eliſe, woͤchentlich einen Thaler zur Unterſtuͤtzung des alten Vaters beizutragen, und auch zu Zeiten ſo viel Kaffee und Zucker hin- zuſchicken, als die beiden Alten (denn die Mutter lebte auch noch) brauchten. Eliſe ſchickte auch noch außerdem dann und wann, wie ſie ſichere Gelegenheit fand, eine Flaſche Wein zur Staͤrkung nach Leindorf.
Endlich ſtarb denn auch Wilhelm Stillings zweite Frau ploͤtzlich an einem Steckfluß, er uͤbertrug nun ſeiner juͤngſten Tochter, die einen Fuhrmann geheirathet hatte, die Haushaltung, und ging dann bei ihr an den Tiſch. Indeſſen wurde es dieſer armen Frau ſehr ſauer; ihr Mann war im- mer mit dem Pferde auf der Straße und zu arm; u[m] ſich fuͤr Geld Unterſtuͤtzung zu verſchaffen, mußte ſie vom Mor- gen bis auf den ſpaͤten Abend im Felde und im Garten ar- beiten; folglich fehlte es dem guten Alten gaͤnzlich an der ge- hoͤrigen Pflege. Eben ſo wenig konnten auch die andern Kinder etwas thun, denn ſie konnten ſich ſelbſt nicht retten, geſchweige noch Jemand an die Hand gehen; mit Einem Wort: das Elend war groß.
Wilhelm Stilling war damals in ſeinem achtzigſten Jahr und recht von Herzen geſund; aber ſeine ohnehin alten
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danke wohl ſchwer auf dem Herzen liegen: er hatte auch
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Vorwuͤrfe uͤber ſeinen Zuſtand gemacht und ihm
geſagt, er ſey ein verlorner Menſch, er tauge zu
nichts, man werde nichts als Schimpf und Schande
an ihm erleben, er werde ſein Brod noch betteln
muͤſſen, u. ſ. w. Von dieſem Sohn ſich nun noch unter-
ſtuͤtzen zu laſſen, oder ihm nach den Fingern ſehen zu muͤſſen,
das mochte dem guten Alten bei ſeinem Ehrgefuͤhl wohl ſchwer
fallen. Indeſſen erfuhr denn doch Stilling in Marburg
nach und nach mehr von der wahren Lage ſeines Vaters, und
ungeachtet er noch ſelbſt eine große Schuldenlaſt zu tilgen
hatte, ſo glaubte er doch, er koͤnne ſich in dieſem Fall wohl
uͤber die bekannte Regel: ſo lange man Schulden habe,
duͤrfe man kein Geld zu andern Zwecken verwen-
den, hinausſetzen; er beſchloß alſo, auf Ueberlegung mit Eliſe,
woͤchentlich einen Thaler zur Unterſtuͤtzung des alten Vaters
beizutragen, und auch zu Zeiten ſo viel Kaffee und Zucker hin-
zuſchicken, als die beiden Alten (denn die Mutter lebte auch
noch) brauchten. Eliſe ſchickte auch noch außerdem dann
und wann, wie ſie ſichere Gelegenheit fand, eine Flaſche
Wein zur Staͤrkung nach Leindorf.
Endlich ſtarb denn auch Wilhelm Stillings zweite
Frau ploͤtzlich an einem Steckfluß, er uͤbertrug nun ſeiner
juͤngſten Tochter, die einen Fuhrmann geheirathet hatte, die
Haushaltung, und ging dann bei ihr an den Tiſch. Indeſſen
wurde es dieſer armen Frau ſehr ſauer; ihr Mann war im-
mer mit dem Pferde auf der Straße und zu arm; um ſich
fuͤr Geld Unterſtuͤtzung zu verſchaffen, mußte ſie vom Mor-
gen bis auf den ſpaͤten Abend im Felde und im Garten ar-
beiten; folglich fehlte es dem guten Alten gaͤnzlich an der ge-
hoͤrigen Pflege. Eben ſo wenig konnten auch die andern
Kinder etwas thun, denn ſie konnten ſich ſelbſt nicht retten,
geſchweige noch Jemand an die Hand gehen; mit Einem Wort:
das Elend war groß.
Wilhelm Stilling war damals in ſeinem achtzigſten
Jahr und recht von Herzen geſund; aber ſeine ohnehin alten
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/508>, abgerufen am 22.11.2024.
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