der Schneeberge bis in den Kanton Bern hinein, und man überblickt einen großen Theil der Schweiz -- für Stil- ling war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man die ganze Alpenkette längs dem Horizont hinliegen sieht, so kommt sie einem wie eine große Säge vor, mit der man Pla- neten spalten könnte.
Stilling blieb bis Osterdienstag in Schaffhausen; er machte etliche glückliche Staaroperationen, unter welchen eine besonders merkwürdig war: ein blindgeborner Jüngling von 15 Jahren, ein Sohn frommer christlicher Eltern, des Professor Altorfer, wurde am Ostermontag Morgen in Gegenwart vieler Personen operirt; als ihm der erste Licht- strahl in das nunmehr vom Staar befreite rechte Auge hin- einblitzte, so fuhr er auf und rief: ich sehe die Majestät Gottes! -- Dieser Ausdruck rührte alle Anwesende bis zu den Thränen; dann wurde auch das andere Auge operirt; eine leichte Entzündung hinderte hernach die Erlangung eines vollkommenen Gesichts; indessen er sieht doch nothdürftig, und Stilling hofft ihm durch eine zweite Operation zum völligen Gebrauch seiner Augen zu verhelfen.
Noch einen artigen Gedanken dieses guten Jünglings muß ich bemerken: Die Eltern hatten einen goldnen Ring verferti- gen lassen, in welchen eine schöne Garbe von Haaren, von einem jeden Mitglied der Familie, schwer von goldnen Früch- ten eingefaßt ist; diesen Ring bekam Elise nach der Opera- tion, und der liebe Patient hatte den Einfall, daß folgende Devise darauf eingegraben werden sollte: Geschrieben im Glauben, übergeben im Schauen -- allein der Raum war zu klein dazu.
Desselben Tages, des Nachmittags, gingen Stilling und Elise in Begleitung der Kirchhofer'schen Familie, zu Fuß an den berühmten Rheinfall; der Magenkrampf war aber so heftig, daß er oft zurückbleiben mußte, und auch von dem prächtigen Schauspiel der Natur nicht den erwarteten Genuß hatte. Stilling und Elise gingen auf der hölzernen Altane so nahe an den Wassersturz, daß sie sich darinnen hätten waschen können. Diese erhabene Naturscene ist schlechterdings
der Schneeberge bis in den Kanton Bern hinein, und man uͤberblickt einen großen Theil der Schweiz — fuͤr Stil- ling war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man die ganze Alpenkette laͤngs dem Horizont hinliegen ſieht, ſo kommt ſie einem wie eine große Saͤge vor, mit der man Pla- neten ſpalten koͤnnte.
Stilling blieb bis Oſterdienſtag in Schaffhauſen; er machte etliche gluͤckliche Staaroperationen, unter welchen eine beſonders merkwuͤrdig war: ein blindgeborner Juͤngling von 15 Jahren, ein Sohn frommer chriſtlicher Eltern, des Profeſſor Altorfer, wurde am Oſtermontag Morgen in Gegenwart vieler Perſonen operirt; als ihm der erſte Licht- ſtrahl in das nunmehr vom Staar befreite rechte Auge hin- einblitzte, ſo fuhr er auf und rief: ich ſehe die Majeſtaͤt Gottes! — Dieſer Ausdruck ruͤhrte alle Anweſende bis zu den Thraͤnen; dann wurde auch das andere Auge operirt; eine leichte Entzuͤndung hinderte hernach die Erlangung eines vollkommenen Geſichts; indeſſen er ſieht doch nothduͤrftig, und Stilling hofft ihm durch eine zweite Operation zum voͤlligen Gebrauch ſeiner Augen zu verhelfen.
Noch einen artigen Gedanken dieſes guten Juͤnglings muß ich bemerken: Die Eltern hatten einen goldnen Ring verferti- gen laſſen, in welchen eine ſchoͤne Garbe von Haaren, von einem jeden Mitglied der Familie, ſchwer von goldnen Fruͤch- ten eingefaßt iſt; dieſen Ring bekam Eliſe nach der Opera- tion, und der liebe Patient hatte den Einfall, daß folgende Deviſe darauf eingegraben werden ſollte: Geſchrieben im Glauben, uͤbergeben im Schauen — allein der Raum war zu klein dazu.
Deſſelben Tages, des Nachmittags, gingen Stilling und Eliſe in Begleitung der Kirchhofer’ſchen Familie, zu Fuß an den beruͤhmten Rheinfall; der Magenkrampf war aber ſo heftig, daß er oft zuruͤckbleiben mußte, und auch von dem praͤchtigen Schauſpiel der Natur nicht den erwarteten Genuß hatte. Stilling und Eliſe gingen auf der hoͤlzernen Altane ſo nahe an den Waſſerſturz, daß ſie ſich darinnen haͤtten waſchen koͤnnen. Dieſe erhabene Naturſcene iſt ſchlechterdings
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0539"n="531"/>
der Schneeberge bis in den Kanton <hirendition="#g">Bern</hi> hinein, und man<lb/>
uͤberblickt einen großen Theil der <hirendition="#g">Schweiz</hi>— fuͤr <hirendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man<lb/>
die ganze Alpenkette laͤngs dem Horizont hinliegen ſieht, ſo<lb/>
kommt ſie einem wie eine große Saͤge vor, mit der man Pla-<lb/>
neten ſpalten koͤnnte.</p><lb/><p><hirendition="#g">Stilling</hi> blieb bis Oſterdienſtag in <hirendition="#g">Schaffhauſen</hi>;<lb/>
er machte etliche gluͤckliche Staaroperationen, unter welchen<lb/>
eine beſonders merkwuͤrdig war: ein blindgeborner Juͤngling<lb/>
von 15 Jahren, ein Sohn frommer chriſtlicher Eltern, des<lb/>
Profeſſor <hirendition="#g">Altorfer</hi>, wurde am Oſtermontag Morgen in<lb/>
Gegenwart vieler Perſonen operirt; als ihm der erſte Licht-<lb/>ſtrahl in das nunmehr vom Staar befreite rechte Auge hin-<lb/>
einblitzte, ſo fuhr er auf und rief: <hirendition="#g">ich ſehe die Majeſtaͤt<lb/>
Gottes</hi>! — Dieſer Ausdruck ruͤhrte alle Anweſende bis zu<lb/>
den Thraͤnen; dann wurde auch das andere Auge operirt;<lb/>
eine leichte Entzuͤndung hinderte hernach die Erlangung eines<lb/>
vollkommenen Geſichts; indeſſen er ſieht doch nothduͤrftig,<lb/>
und <hirendition="#g">Stilling</hi> hofft ihm durch eine zweite Operation zum<lb/>
voͤlligen Gebrauch ſeiner Augen zu verhelfen.</p><lb/><p>Noch einen artigen Gedanken dieſes guten Juͤnglings muß<lb/>
ich bemerken: Die Eltern hatten einen goldnen Ring verferti-<lb/>
gen laſſen, in welchen eine ſchoͤne Garbe von Haaren, von<lb/>
einem jeden Mitglied der Familie, ſchwer von goldnen Fruͤch-<lb/>
ten eingefaßt iſt; dieſen Ring bekam Eliſe nach der Opera-<lb/>
tion, und der liebe Patient hatte den Einfall, daß folgende<lb/>
Deviſe darauf eingegraben werden ſollte: <hirendition="#g">Geſchrieben im<lb/>
Glauben, uͤbergeben im Schauen</hi>— allein der Raum<lb/>
war zu klein dazu.</p><lb/><p>Deſſelben Tages, des Nachmittags, gingen <hirendition="#g">Stilling</hi> und<lb/><hirendition="#g">Eliſe</hi> in Begleitung der <hirendition="#g">Kirchhofer</hi>’ſchen Familie, zu Fuß<lb/>
an den beruͤhmten <hirendition="#g">Rheinfall</hi>; der Magenkrampf war aber<lb/>ſo heftig, daß er oft zuruͤckbleiben mußte, und auch von dem<lb/>
praͤchtigen Schauſpiel der Natur nicht den erwarteten Genuß<lb/>
hatte. <hirendition="#g">Stilling</hi> und <hirendition="#g">Eliſe</hi> gingen auf der hoͤlzernen Altane<lb/>ſo nahe an den Waſſerſturz, daß ſie ſich darinnen haͤtten<lb/>
waſchen koͤnnen. Dieſe erhabene Naturſcene iſt ſchlechterdings<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[531/0539]
der Schneeberge bis in den Kanton Bern hinein, und man
uͤberblickt einen großen Theil der Schweiz — fuͤr Stil-
ling war das eine herzerhebende Augenweide. Wenn man
die ganze Alpenkette laͤngs dem Horizont hinliegen ſieht, ſo
kommt ſie einem wie eine große Saͤge vor, mit der man Pla-
neten ſpalten koͤnnte.
Stilling blieb bis Oſterdienſtag in Schaffhauſen;
er machte etliche gluͤckliche Staaroperationen, unter welchen
eine beſonders merkwuͤrdig war: ein blindgeborner Juͤngling
von 15 Jahren, ein Sohn frommer chriſtlicher Eltern, des
Profeſſor Altorfer, wurde am Oſtermontag Morgen in
Gegenwart vieler Perſonen operirt; als ihm der erſte Licht-
ſtrahl in das nunmehr vom Staar befreite rechte Auge hin-
einblitzte, ſo fuhr er auf und rief: ich ſehe die Majeſtaͤt
Gottes! — Dieſer Ausdruck ruͤhrte alle Anweſende bis zu
den Thraͤnen; dann wurde auch das andere Auge operirt;
eine leichte Entzuͤndung hinderte hernach die Erlangung eines
vollkommenen Geſichts; indeſſen er ſieht doch nothduͤrftig,
und Stilling hofft ihm durch eine zweite Operation zum
voͤlligen Gebrauch ſeiner Augen zu verhelfen.
Noch einen artigen Gedanken dieſes guten Juͤnglings muß
ich bemerken: Die Eltern hatten einen goldnen Ring verferti-
gen laſſen, in welchen eine ſchoͤne Garbe von Haaren, von
einem jeden Mitglied der Familie, ſchwer von goldnen Fruͤch-
ten eingefaßt iſt; dieſen Ring bekam Eliſe nach der Opera-
tion, und der liebe Patient hatte den Einfall, daß folgende
Deviſe darauf eingegraben werden ſollte: Geſchrieben im
Glauben, uͤbergeben im Schauen — allein der Raum
war zu klein dazu.
Deſſelben Tages, des Nachmittags, gingen Stilling und
Eliſe in Begleitung der Kirchhofer’ſchen Familie, zu Fuß
an den beruͤhmten Rheinfall; der Magenkrampf war aber
ſo heftig, daß er oft zuruͤckbleiben mußte, und auch von dem
praͤchtigen Schauſpiel der Natur nicht den erwarteten Genuß
hatte. Stilling und Eliſe gingen auf der hoͤlzernen Altane
ſo nahe an den Waſſerſturz, daß ſie ſich darinnen haͤtten
waſchen koͤnnen. Dieſe erhabene Naturſcene iſt ſchlechterdings
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/539>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.