mit einer solchen Gewalt auf den Boden, daß der Kasten rundum in der Mitte entzwei borst; da es nun eine Halb- chaise, also vorn unbedeckt ist, so flogen Elise, Maria und die beiden Kinder dort über die Wiese hin, Stilling aber, der auf der Fallseite hinten im Eck saß, blieb im Wa- gen, und wurde jämmerlich zugerichtet. Zum Glück fuhr der Kehrnagel heraus, so daß die Kutsche nicht geschleift wurde, sie blieb also still liegen, und Stilling lag so fest einge- klemmt, daß er sich nicht regen konnte. Es ist außerordent- lich merkwürdig, daß in dem Augenblick alle Schwermuth weg war; ungeachtet der heftigen Schmerzen, denn der ganze Körper war wie geradbrecht, fühlte er eine innere Ruhe und Heiterkeit, eine solche erhabene Freude, wie er sie noch nie empfunden hatte; und ungeachtet er noch gar nicht wußte, welches die Folgen seyn würden, so war er so innig ergeben in den göttlichen Willen, daß ihn auch nicht die geringste Furcht vor dem Tod anwandelte; so sehr auch der Postillon einen derben Ausputzer, und dann eine namhafte Strafe ver- dient hatte, so sagte ihm Stilling doch sehr gütig, und weiter nichts, als: Freund! ihr habt zu kurz gedreht.
Elise, Maria und die Kinder hatten nicht das geringste gelitten -- Bruder Coing kam auch wieder herzugelaufen -- als sie nun den Mann, an dem ihrer aller Seele hängt, so blutrünstig und entstellt unter der Kutsche liegen sahen, so fingen sie alle jämmerlich an zu lamentiren; die Kutsche wurde aufgehoben, und der verwundete gequetschte Mann hinkte an Elisens Arm wieder nach Braach zurück; der Postillon schleppte die eben so verwundete und gequetschte Kutsche auch dahin, und er kam so mit genauer Noth davon, daß ihn die Braacher Bauern nicht tüchtig zudeckten. Diese waren aber auf andere Weise thätig; der Eine warf sich auf's Pferd, und rennte in vollem Gallopp nach Rothenburg, um Aerzte zu holen, und die andern schickten Erfrischungen, so gut sie sie hatten, und so gut sie es verstunden; alles wurde aber natürlicher Weise so angenommen, als ob es das Kost- barste und Schicklichst sey.
Stillings körperlicher Zustand war erbärmlich; die ganze
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mit einer ſolchen Gewalt auf den Boden, daß der Kaſten rundum in der Mitte entzwei borſt; da es nun eine Halb- chaiſe, alſo vorn unbedeckt iſt, ſo flogen Eliſe, Maria und die beiden Kinder dort uͤber die Wieſe hin, Stilling aber, der auf der Fallſeite hinten im Eck ſaß, blieb im Wa- gen, und wurde jaͤmmerlich zugerichtet. Zum Gluͤck fuhr der Kehrnagel heraus, ſo daß die Kutſche nicht geſchleift wurde, ſie blieb alſo ſtill liegen, und Stilling lag ſo feſt einge- klemmt, daß er ſich nicht regen konnte. Es iſt außerordent- lich merkwuͤrdig, daß in dem Augenblick alle Schwermuth weg war; ungeachtet der heftigen Schmerzen, denn der ganze Koͤrper war wie geradbrecht, fuͤhlte er eine innere Ruhe und Heiterkeit, eine ſolche erhabene Freude, wie er ſie noch nie empfunden hatte; und ungeachtet er noch gar nicht wußte, welches die Folgen ſeyn wuͤrden, ſo war er ſo innig ergeben in den goͤttlichen Willen, daß ihn auch nicht die geringſte Furcht vor dem Tod anwandelte; ſo ſehr auch der Poſtillon einen derben Ausputzer, und dann eine namhafte Strafe ver- dient hatte, ſo ſagte ihm Stilling doch ſehr guͤtig, und weiter nichts, als: Freund! ihr habt zu kurz gedreht.
Eliſe, Maria und die Kinder hatten nicht das geringſte gelitten — Bruder Coing kam auch wieder herzugelaufen — als ſie nun den Mann, an dem ihrer aller Seele haͤngt, ſo blutruͤnſtig und entſtellt unter der Kutſche liegen ſahen, ſo fingen ſie alle jaͤmmerlich an zu lamentiren; die Kutſche wurde aufgehoben, und der verwundete gequetſchte Mann hinkte an Eliſens Arm wieder nach Braach zuruͤck; der Poſtillon ſchleppte die eben ſo verwundete und gequetſchte Kutſche auch dahin, und er kam ſo mit genauer Noth davon, daß ihn die Braacher Bauern nicht tuͤchtig zudeckten. Dieſe waren aber auf andere Weiſe thaͤtig; der Eine warf ſich auf’s Pferd, und rennte in vollem Gallopp nach Rothenburg, um Aerzte zu holen, und die andern ſchickten Erfriſchungen, ſo gut ſie ſie hatten, und ſo gut ſie es verſtunden; alles wurde aber natuͤrlicher Weiſe ſo angenommen, als ob es das Koſt- barſte und Schicklichſt ſey.
Stillings koͤrperlicher Zuſtand war erbaͤrmlich; die ganze
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mit einer ſolchen Gewalt auf den Boden, daß der Kaſten
rundum in der Mitte entzwei borſt; da es nun eine Halb-
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und die beiden Kinder dort uͤber die Wieſe hin, Stilling
aber, der auf der Fallſeite hinten im Eck ſaß, blieb im Wa-
gen, und wurde jaͤmmerlich zugerichtet. Zum Gluͤck fuhr
der Kehrnagel heraus, ſo daß die Kutſche nicht geſchleift wurde,
ſie blieb alſo ſtill liegen, und Stilling lag ſo feſt einge-
klemmt, daß er ſich nicht regen konnte. Es iſt außerordent-
lich merkwuͤrdig, daß in dem Augenblick alle Schwermuth
weg war; ungeachtet der heftigen Schmerzen, denn der ganze
Koͤrper war wie geradbrecht, fuͤhlte er eine innere Ruhe und
Heiterkeit, eine ſolche erhabene Freude, wie er ſie noch nie
empfunden hatte; und ungeachtet er noch gar nicht wußte,
welches die Folgen ſeyn wuͤrden, ſo war er ſo innig ergeben
in den goͤttlichen Willen, daß ihn auch nicht die geringſte
Furcht vor dem Tod anwandelte; ſo ſehr auch der Poſtillon
einen derben Ausputzer, und dann eine namhafte Strafe ver-
dient hatte, ſo ſagte ihm Stilling doch ſehr guͤtig, und
weiter nichts, als: Freund! ihr habt zu kurz gedreht.
Eliſe, Maria und die Kinder hatten nicht das geringſte
gelitten — Bruder Coing kam auch wieder herzugelaufen —
als ſie nun den Mann, an dem ihrer aller Seele haͤngt, ſo
blutruͤnſtig und entſtellt unter der Kutſche liegen ſahen, ſo
fingen ſie alle jaͤmmerlich an zu lamentiren; die Kutſche wurde
aufgehoben, und der verwundete gequetſchte Mann hinkte an
Eliſens Arm wieder nach Braach zuruͤck; der Poſtillon
ſchleppte die eben ſo verwundete und gequetſchte Kutſche auch
dahin, und er kam ſo mit genauer Noth davon, daß ihn die
Braacher Bauern nicht tuͤchtig zudeckten. Dieſe waren
aber auf andere Weiſe thaͤtig; der Eine warf ſich auf’s Pferd,
und rennte in vollem Gallopp nach Rothenburg, um
Aerzte zu holen, und die andern ſchickten Erfriſchungen, ſo
gut ſie ſie hatten, und ſo gut ſie es verſtunden; alles wurde
aber natuͤrlicher Weiſe ſo angenommen, als ob es das Koſt-
barſte und Schicklichſt ſey.
Stillings koͤrperlicher Zuſtand war erbaͤrmlich; die ganze
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/559>, abgerufen am 22.11.2024.
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