Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

und warum ihr so gehen müßt. Ich will euch auch Bier zu
trinken geben. Sie setzte sich und erzählte.

Ach lieber Gott! sprach sie. Leider ja! muß ich so gehen
(Stillings Mariechen hatte sich neben sie, doch etwas
von ihr abgesetzt, sie horchte mit größter Aufmerksamkeit,
auch waren ihre Augen schon feucht), ich bin ja leider eine
arme Frau. Vor zehen Jahren möchtet ihr Leute euch wohl eine
Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch gespeist hätte.

Wilhelm Stilling. Das wäre!

Johann Stilling. Es sey denn, daß ihr eine Stoll-
beinische Natur gehabt hättet.

Vater Stilling. Seyd still, Kinder! Lasset die Frau
reden!

"Mein Vater ist Pastor zu --"

Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Pastor? sie rückt
näher.

"Ach ja! Freilich ist er Pastor. Ein sehr gelehrter und
reicher Mann."

Vater Stilling. Wo ist er Pastor?

"Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!"

Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land-
charte suchen. Das muß nicht weit vom Mühlersee seyn, oben
an der Spitze, gegen Septentrio zu.

"Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei,
der Schlendrian heißt."

Mariechen. Unser Johann sagte nicht Schlendrian. Wie
sagtest du?

Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!

"Nun war ich dazumal eine hübsche Jungfer, hatte auch
schöne Gelegenheiten zu heirathen (Mariechen besah sie
vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater
recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht
vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche."

Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die
nicht in die Kirche gehen?

Johann Stilling. St! Mädchen! Separatisten.

"Gut! was soll mir geschehen, ich sahe wohl, ich würde

und warum ihr ſo gehen muͤßt. Ich will euch auch Bier zu
trinken geben. Sie ſetzte ſich und erzaͤhlte.

Ach lieber Gott! ſprach ſie. Leider ja! muß ich ſo gehen
(Stillings Mariechen hatte ſich neben ſie, doch etwas
von ihr abgeſetzt, ſie horchte mit groͤßter Aufmerkſamkeit,
auch waren ihre Augen ſchon feucht), ich bin ja leider eine
arme Frau. Vor zehen Jahren moͤchtet ihr Leute euch wohl eine
Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch geſpeist haͤtte.

Wilhelm Stilling. Das waͤre!

Johann Stilling. Es ſey denn, daß ihr eine Stoll-
beiniſche Natur gehabt haͤttet.

Vater Stilling. Seyd ſtill, Kinder! Laſſet die Frau
reden!

„Mein Vater iſt Paſtor zu —“

Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Paſtor? ſie ruͤckt
naͤher.

„Ach ja! Freilich iſt er Paſtor. Ein ſehr gelehrter und
reicher Mann.“

Vater Stilling. Wo iſt er Paſtor?

„Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!“

Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land-
charte ſuchen. Das muß nicht weit vom Muͤhlerſee ſeyn, oben
an der Spitze, gegen Septentrio zu.

„Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei,
der Schlendrian heißt.“

Mariechen. Unſer Johann ſagte nicht Schlendrian. Wie
ſagteſt du?

Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder!

„Nun war ich dazumal eine huͤbſche Jungfer, hatte auch
ſchoͤne Gelegenheiten zu heirathen (Mariechen beſah ſie
vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater
recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht
vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche.“

Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die
nicht in die Kirche gehen?

Johann Stilling. St! Maͤdchen! Separatiſten.

„Gut! was ſoll mir geſchehen, ich ſahe wohl, ich wuͤrde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0058" n="50"/>
und warum ihr &#x017F;o gehen mu&#x0364;ßt. Ich will euch auch Bier zu<lb/>
trinken geben. Sie &#x017F;etzte &#x017F;ich und erza&#x0364;hlte.</p><lb/>
            <p>Ach lieber Gott! &#x017F;prach &#x017F;ie. Leider ja! muß ich &#x017F;o gehen<lb/>
(<hi rendition="#g">Stillings Mariechen</hi> hatte &#x017F;ich neben &#x017F;ie, doch etwas<lb/>
von ihr abge&#x017F;etzt, &#x017F;ie horchte mit gro&#x0364;ßter Aufmerk&#x017F;amkeit,<lb/>
auch waren ihre Augen &#x017F;chon feucht), ich bin ja leider eine<lb/>
arme Frau. Vor zehen Jahren mo&#x0364;chtet ihr Leute euch wohl eine<lb/>
Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch ge&#x017F;peist ha&#x0364;tte.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Wilhelm Stilling</hi>. Das wa&#x0364;re!</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Johann Stilling</hi>. Es &#x017F;ey denn, daß ihr eine Stoll-<lb/>
beini&#x017F;che Natur gehabt ha&#x0364;ttet.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Vater Stilling</hi>. Seyd &#x017F;till, Kinder! La&#x017F;&#x017F;et die Frau<lb/>
reden!</p><lb/>
            <p>&#x201E;Mein Vater i&#x017F;t Pa&#x017F;tor zu &#x2014;&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Mariechen</hi>. Jemini! Euer Vater ein Pa&#x017F;tor? &#x017F;ie ru&#x0364;ckt<lb/>
na&#x0364;her.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Ach ja! Freilich i&#x017F;t er Pa&#x017F;tor. Ein &#x017F;ehr gelehrter und<lb/>
reicher Mann.&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Vater Stilling</hi>. Wo i&#x017F;t er Pa&#x017F;tor?</p><lb/>
            <p>&#x201E;Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Johann Stilling</hi>. Das muß ich doch auf der Land-<lb/>
charte &#x017F;uchen. Das muß nicht weit vom Mu&#x0364;hler&#x017F;ee &#x017F;eyn, oben<lb/>
an der Spitze, gegen <hi rendition="#g">Septentrio</hi> zu.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei,<lb/>
der Schlendrian heißt.&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Mariechen</hi>. Un&#x017F;er Johann &#x017F;agte nicht Schlendrian. Wie<lb/>
&#x017F;agte&#x017F;t du?</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Vater Stilling</hi>. Redet ihr fort! St! Kinder!</p><lb/>
            <p>&#x201E;Nun war ich dazumal eine hu&#x0364;b&#x017F;che Jungfer, hatte auch<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ne Gelegenheiten zu heirathen (<hi rendition="#g">Mariechen</hi> be&#x017F;ah &#x017F;ie<lb/>
vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater<lb/>
recht. <hi rendition="#g">Der</hi> war ihm nicht reich genug, der Andere nicht<lb/>
vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche.&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Mariechen</hi>. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die<lb/>
nicht in die Kirche gehen?</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Johann Stilling</hi>. St! Ma&#x0364;dchen! Separati&#x017F;ten.</p><lb/>
            <p>&#x201E;Gut! was &#x017F;oll mir ge&#x017F;chehen, ich &#x017F;ahe wohl, ich wu&#x0364;rde<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0058] und warum ihr ſo gehen muͤßt. Ich will euch auch Bier zu trinken geben. Sie ſetzte ſich und erzaͤhlte. Ach lieber Gott! ſprach ſie. Leider ja! muß ich ſo gehen (Stillings Mariechen hatte ſich neben ſie, doch etwas von ihr abgeſetzt, ſie horchte mit groͤßter Aufmerkſamkeit, auch waren ihre Augen ſchon feucht), ich bin ja leider eine arme Frau. Vor zehen Jahren moͤchtet ihr Leute euch wohl eine Ehre daraus gemacht haben, wenn ich mit euch geſpeist haͤtte. Wilhelm Stilling. Das waͤre! Johann Stilling. Es ſey denn, daß ihr eine Stoll- beiniſche Natur gehabt haͤttet. Vater Stilling. Seyd ſtill, Kinder! Laſſet die Frau reden! „Mein Vater iſt Paſtor zu —“ Mariechen. Jemini! Euer Vater ein Paſtor? ſie ruͤckt naͤher. „Ach ja! Freilich iſt er Paſtor. Ein ſehr gelehrter und reicher Mann.“ Vater Stilling. Wo iſt er Paſtor? „Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja freilich! Leider ja!“ Johann Stilling. Das muß ich doch auf der Land- charte ſuchen. Das muß nicht weit vom Muͤhlerſee ſeyn, oben an der Spitze, gegen Septentrio zu. „Ach, mein junger Herr! ich weiß keinen Ort nahe dabei, der Schlendrian heißt.“ Mariechen. Unſer Johann ſagte nicht Schlendrian. Wie ſagteſt du? Vater Stilling. Redet ihr fort! St! Kinder! „Nun war ich dazumal eine huͤbſche Jungfer, hatte auch ſchoͤne Gelegenheiten zu heirathen (Mariechen beſah ſie vom Haupt bis zum Fuß), allein keiner war meinem Vater recht. Der war ihm nicht reich genug, der Andere nicht vornehm genug, der Dritte ging nicht viel in die Kirche.“ Mariechen. Sage, Johann, wie heißen die Leute, die nicht in die Kirche gehen? Johann Stilling. St! Maͤdchen! Separatiſten. „Gut! was ſoll mir geſchehen, ich ſahe wohl, ich wuͤrde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/58
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/58>, abgerufen am 15.05.2024.