Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Jetzt bitte ich nun inständig, Gott und der Wahrheit die Ehre
zu geben, und folgende Sätze genau zu prüfen:

1. Zeigt meine ganze Lebensgeschichte nicht unwiderstehlich, daß
mich nicht menschlicher Verstand und Weisheit, sondern der --
der der Menschen Herz, Handlungen und Schicksale -- doch
ohne Zwang ihres freien Willens -- zu lenken versteht, von An-
fang bis zu Ende wahrhaft nach einem vorbedachten Plan ge-
leitet, gebildet und erzogen habe?

2. Zeigt meine Geschichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß
von meiner Seite nicht das Geringste, weder zum Entwurf,
noch zur Ausführung meines Lebensplans geschehen sey? --
weder Schwärmerei noch Irrthümer hatten an jenem Plan, an
dessen Ausführung Theil: denn wo ich schwärmte oder irrte, da
wurde ich immer durch die Entwicklung eines Bessern belehrt.

3. Wenn mich also nun der Allweise, Allgütige und Alles-
vermögende Weltregent selbst geleitet, vor- und zubereitet hat,
ohne daß weder ich selbst, noch irgend ein Mensch,
Antheil an seinem Plan hatte: kann Ihm da sein
Werk mißlungen seyn
? -- kann Er einen Irrgeist, einen
Schwärmer und Obscuranten -- so -- leiten und führen wie
mich, um die Menschen zu täuschen? -- Ja! zulassen kann
Ers, daß sich ein Schwärmer und Verführer selbst durch
Schwierigkeiten durcharbeitet und eigenmächtig sich ein Publi-
kum erwirbt: denn Er läßt freie Wesen auch frei wirken, so
lange es mit seinem hohen Rath bestehen kann; aber zeige mir
Einer in meinem ganzen Leben, daß ich mich irgendwo durch
Schwierigkeiten von der Art durchgearbeitet, oder gesucht habe,
mir ein Publikum in religiöser Hinsicht zu erwerben.

4. Folgt also nun nicht aus dem Allem, daß mein religiöses
Lehrsystem, welches kein anderes ist, als dasjenige, welches Chri-
stus
und seine Apostel -- und nachher alle rechtgläubige Kirchen-
väter alle Jahrhunderte durch, gelehrt haben, wahr, und aber-
mals durch meine Führung legitimirt worden sey? -- ich kann
Ideen, -- ich kann Nebenbegriffe haben, die noch unlauter,
noch nicht genug berichtiget sind, aber in der Hauptsache des
Christenthums irre ich so gewiß nicht, als ich gewiß bin, daß
mich Gott mein ganzes Leben durch geführt, und selbst zum Zeu-

Jetzt bitte ich nun inſtaͤndig, Gott und der Wahrheit die Ehre
zu geben, und folgende Saͤtze genau zu pruͤfen:

1. Zeigt meine ganze Lebensgeſchichte nicht unwiderſtehlich, daß
mich nicht menſchlicher Verſtand und Weisheit, ſondern der
der der Menſchen Herz, Handlungen und Schickſale — doch
ohne Zwang ihres freien Willens — zu lenken verſteht, von An-
fang bis zu Ende wahrhaft nach einem vorbedachten Plan ge-
leitet, gebildet und erzogen habe?

2. Zeigt meine Geſchichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß
von meiner Seite nicht das Geringſte, weder zum Entwurf,
noch zur Ausfuͤhrung meines Lebensplans geſchehen ſey? —
weder Schwaͤrmerei noch Irrthuͤmer hatten an jenem Plan, an
deſſen Ausfuͤhrung Theil: denn wo ich ſchwaͤrmte oder irrte, da
wurde ich immer durch die Entwicklung eines Beſſern belehrt.

3. Wenn mich alſo nun der Allweiſe, Allguͤtige und Alles-
vermoͤgende Weltregent ſelbſt geleitet, vor- und zubereitet hat,
ohne daß weder ich ſelbſt, noch irgend ein Menſch,
Antheil an ſeinem Plan hatte: kann Ihm da ſein
Werk mißlungen ſeyn
? — kann Er einen Irrgeiſt, einen
Schwaͤrmer und Obſcuranten — ſo — leiten und fuͤhren wie
mich, um die Menſchen zu taͤuſchen? — Ja! zulaſſen kann
Ers, daß ſich ein Schwaͤrmer und Verfuͤhrer ſelbſt durch
Schwierigkeiten durcharbeitet und eigenmaͤchtig ſich ein Publi-
kum erwirbt: denn Er laͤßt freie Weſen auch frei wirken, ſo
lange es mit ſeinem hohen Rath beſtehen kann; aber zeige mir
Einer in meinem ganzen Leben, daß ich mich irgendwo durch
Schwierigkeiten von der Art durchgearbeitet, oder geſucht habe,
mir ein Publikum in religioͤſer Hinſicht zu erwerben.

4. Folgt alſo nun nicht aus dem Allem, daß mein religioͤſes
Lehrſyſtem, welches kein anderes iſt, als dasjenige, welches Chri-
ſtus
und ſeine Apoſtel — und nachher alle rechtglaͤubige Kirchen-
vaͤter alle Jahrhunderte durch, gelehrt haben, wahr, und aber-
mals durch meine Fuͤhrung legitimirt worden ſey? — ich kann
Ideen, — ich kann Nebenbegriffe haben, die noch unlauter,
noch nicht genug berichtiget ſind, aber in der Hauptſache des
Chriſtenthums irre ich ſo gewiß nicht, als ich gewiß bin, daß
mich Gott mein ganzes Leben durch gefuͤhrt, und ſelbſt zum Zeu-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0608" n="600"/>
          <p>Jetzt bitte ich nun in&#x017F;ta&#x0364;ndig, Gott und der Wahrheit die Ehre<lb/>
zu geben, und folgende Sa&#x0364;tze genau zu pru&#x0364;fen:</p><lb/>
          <p>1. Zeigt meine ganze Lebensge&#x017F;chichte nicht unwider&#x017F;tehlich, daß<lb/>
mich nicht men&#x017F;chlicher Ver&#x017F;tand und Weisheit, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">der</hi> &#x2014;<lb/>
der der Men&#x017F;chen Herz, Handlungen und Schick&#x017F;ale &#x2014; doch<lb/>
ohne Zwang ihres freien Willens &#x2014; zu lenken ver&#x017F;teht, von An-<lb/>
fang bis zu Ende wahrhaft nach einem vorbedachten Plan ge-<lb/>
leitet, gebildet und erzogen habe?</p><lb/>
          <p>2. Zeigt meine Ge&#x017F;chichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß<lb/>
von <hi rendition="#g">meiner</hi> Seite nicht das Gering&#x017F;te, weder zum Entwurf,<lb/>
noch zur Ausfu&#x0364;hrung meines Lebensplans ge&#x017F;chehen &#x017F;ey? &#x2014;<lb/>
weder Schwa&#x0364;rmerei noch Irrthu&#x0364;mer hatten an jenem Plan, an<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Ausfu&#x0364;hrung Theil: denn wo ich &#x017F;chwa&#x0364;rmte oder irrte, da<lb/>
wurde ich immer durch die Entwicklung eines Be&#x017F;&#x017F;ern belehrt.</p><lb/>
          <p>3. Wenn mich al&#x017F;o nun der Allwei&#x017F;e, Allgu&#x0364;tige und Alles-<lb/>
vermo&#x0364;gende Weltregent <hi rendition="#g">&#x017F;elb&#x017F;t</hi> geleitet, vor- und zubereitet hat,<lb/><hi rendition="#g">ohne daß weder ich &#x017F;elb&#x017F;t, noch irgend ein Men&#x017F;ch,<lb/>
Antheil an &#x017F;einem Plan hatte: kann Ihm da &#x017F;ein<lb/>
Werk mißlungen &#x017F;eyn</hi>? &#x2014; kann Er einen Irrgei&#x017F;t, einen<lb/>
Schwa&#x0364;rmer und Ob&#x017F;curanten &#x2014; &#x017F;o &#x2014; leiten und fu&#x0364;hren wie<lb/>
mich, um die Men&#x017F;chen zu ta&#x0364;u&#x017F;chen? &#x2014; Ja! zula&#x017F;&#x017F;en kann<lb/>
Ers, daß &#x017F;ich ein Schwa&#x0364;rmer und Verfu&#x0364;hrer <hi rendition="#g">&#x017F;elb&#x017F;t</hi> durch<lb/>
Schwierigkeiten durcharbeitet und eigenma&#x0364;chtig &#x017F;ich ein Publi-<lb/>
kum erwirbt: denn Er la&#x0364;ßt freie We&#x017F;en auch frei wirken, &#x017F;o<lb/>
lange es mit &#x017F;einem hohen Rath be&#x017F;tehen kann; aber zeige mir<lb/>
Einer in meinem ganzen Leben, daß ich mich irgendwo durch<lb/>
Schwierigkeiten von der Art durchgearbeitet, oder ge&#x017F;ucht habe,<lb/>
mir ein Publikum in religio&#x0364;&#x017F;er Hin&#x017F;icht zu erwerben.</p><lb/>
          <p>4. Folgt al&#x017F;o nun nicht aus dem Allem, daß mein religio&#x0364;&#x017F;es<lb/>
Lehr&#x017F;y&#x017F;tem, welches kein anderes i&#x017F;t, als dasjenige, welches <hi rendition="#g">Chri-<lb/>
&#x017F;tus</hi> und &#x017F;eine Apo&#x017F;tel &#x2014; und nachher alle rechtgla&#x0364;ubige Kirchen-<lb/>
va&#x0364;ter alle Jahrhunderte durch, gelehrt haben, <hi rendition="#g">wahr</hi>, und aber-<lb/>
mals durch meine Fu&#x0364;hrung legitimirt worden &#x017F;ey? &#x2014; ich kann<lb/>
Ideen, &#x2014; ich kann Nebenbegriffe haben, die noch unlauter,<lb/><hi rendition="#g">noch</hi> nicht genug berichtiget &#x017F;ind, aber in der Haupt&#x017F;ache des<lb/>
Chri&#x017F;tenthums irre ich &#x017F;o gewiß nicht, als ich gewiß bin, daß<lb/>
mich Gott mein ganzes Leben durch gefu&#x0364;hrt, und &#x017F;elb&#x017F;t zum Zeu-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[600/0608] Jetzt bitte ich nun inſtaͤndig, Gott und der Wahrheit die Ehre zu geben, und folgende Saͤtze genau zu pruͤfen: 1. Zeigt meine ganze Lebensgeſchichte nicht unwiderſtehlich, daß mich nicht menſchlicher Verſtand und Weisheit, ſondern der — der der Menſchen Herz, Handlungen und Schickſale — doch ohne Zwang ihres freien Willens — zu lenken verſteht, von An- fang bis zu Ende wahrhaft nach einem vorbedachten Plan ge- leitet, gebildet und erzogen habe? 2. Zeigt meine Geſchichte nicht ebenfalls unwiderlegbar, daß von meiner Seite nicht das Geringſte, weder zum Entwurf, noch zur Ausfuͤhrung meines Lebensplans geſchehen ſey? — weder Schwaͤrmerei noch Irrthuͤmer hatten an jenem Plan, an deſſen Ausfuͤhrung Theil: denn wo ich ſchwaͤrmte oder irrte, da wurde ich immer durch die Entwicklung eines Beſſern belehrt. 3. Wenn mich alſo nun der Allweiſe, Allguͤtige und Alles- vermoͤgende Weltregent ſelbſt geleitet, vor- und zubereitet hat, ohne daß weder ich ſelbſt, noch irgend ein Menſch, Antheil an ſeinem Plan hatte: kann Ihm da ſein Werk mißlungen ſeyn? — kann Er einen Irrgeiſt, einen Schwaͤrmer und Obſcuranten — ſo — leiten und fuͤhren wie mich, um die Menſchen zu taͤuſchen? — Ja! zulaſſen kann Ers, daß ſich ein Schwaͤrmer und Verfuͤhrer ſelbſt durch Schwierigkeiten durcharbeitet und eigenmaͤchtig ſich ein Publi- kum erwirbt: denn Er laͤßt freie Weſen auch frei wirken, ſo lange es mit ſeinem hohen Rath beſtehen kann; aber zeige mir Einer in meinem ganzen Leben, daß ich mich irgendwo durch Schwierigkeiten von der Art durchgearbeitet, oder geſucht habe, mir ein Publikum in religioͤſer Hinſicht zu erwerben. 4. Folgt alſo nun nicht aus dem Allem, daß mein religioͤſes Lehrſyſtem, welches kein anderes iſt, als dasjenige, welches Chri- ſtus und ſeine Apoſtel — und nachher alle rechtglaͤubige Kirchen- vaͤter alle Jahrhunderte durch, gelehrt haben, wahr, und aber- mals durch meine Fuͤhrung legitimirt worden ſey? — ich kann Ideen, — ich kann Nebenbegriffe haben, die noch unlauter, noch nicht genug berichtiget ſind, aber in der Hauptſache des Chriſtenthums irre ich ſo gewiß nicht, als ich gewiß bin, daß mich Gott mein ganzes Leben durch gefuͤhrt, und ſelbſt zum Zeu-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/608
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/608>, abgerufen am 01.09.2024.