er als Kameralist und Oekonom seine Laufbahn in Rußland antritt; seine Guitarre und sein schöner männlicher Gesang ver- scheuchen mir manche trübe Stunde. Doch mir fällt eben ein, daß die Großväter und Großmütter gar gesprächig werden, wenn von ihrer Familie die Rede ist; um nun nicht in diesen Fehler zu verfallen, will ich lieber einlenken, und den Faden meiner Lebensgeschichte an Stillings Lehrjahre anknüpfen.
Bei meiner Ankunft in Heidelberg 1803 im September, er- fuhr ich, daß der Großherzog, damals noch Kurfürst, in Mann- heim sey; ich fuhr also des andern Tages dahin, um Ihm persönlich meine Ankunft anzuzeigen, und mich Ihm zu empfeh- len. Er empfing mich sehr gnädig, und sagte: "Ich freue mich, Sie in meinem Land zu wissen; ich habe von Jugend auf den Wunsch gehabt, der Religion und dem Christenthum alle meine Kräfte zu widmen: allein Gott hat mir das Regentenamt an- vertraut, dem ich alle meine Kräfte schuldig bin; Sie sind nun der Mann, den Gott zu diesem Zweck zubereitet hat. Ich ent- binde Sie daher von allen irdischen Verbindlichkeiten, und trage Ihnen auf, durch ihren Briefwechsel und Schriftstellerei Reli- gion und praktisches Christenthum an meiner Stelle zu beför- dern; dazu berufe und besolde ich Sie."
Das war nun auch meine politische und rechtskräftige Vo- kation zu meinem künftigen Beruf, der nichts fehlte, als eine schriftliche Ausfertigung, die ich aber nicht für nöthig hielt, in- dem ich wohl wußte, daß mich deßfalls Niemand in Anspruch nehmen würde. Ich kehrte also mit einer innigen Seelenruhe nach Heidelberg zurück, denn nun war ja der große Grundtrieb, der von der Wiege an mein Inneres gedrängt hatte, befriedigt. Nur Ein Hauptpunkt störte, ungeachtet meines unerschütterli- chen Vertrauens auf meinen himmlischen Führer, meine Ruhe: ich fand Alles in Heidelberg ganz anders, als ich es vor zehn und einem halben Jahre verlassen hatte; Alles war theuer, nicht wohlfeiler, als in Marburg, Verschiedenes noch theurer; man hatte uns geschrieben, wir sollten unser Hausgeräthe verkaufen, denn wir könnten es in Heidelberg besser wieder anschaffen,
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er als Kameraliſt und Oekonom ſeine Laufbahn in Rußland antritt; ſeine Guitarre und ſein ſchoͤner maͤnnlicher Geſang ver- ſcheuchen mir manche truͤbe Stunde. Doch mir faͤllt eben ein, daß die Großvaͤter und Großmuͤtter gar geſpraͤchig werden, wenn von ihrer Familie die Rede iſt; um nun nicht in dieſen Fehler zu verfallen, will ich lieber einlenken, und den Faden meiner Lebensgeſchichte an Stillings Lehrjahre anknuͤpfen.
Bei meiner Ankunft in Heidelberg 1803 im September, er- fuhr ich, daß der Großherzog, damals noch Kurfuͤrſt, in Mann- heim ſey; ich fuhr alſo des andern Tages dahin, um Ihm perſoͤnlich meine Ankunft anzuzeigen, und mich Ihm zu empfeh- len. Er empfing mich ſehr gnaͤdig, und ſagte: „Ich freue mich, Sie in meinem Land zu wiſſen; ich habe von Jugend auf den Wunſch gehabt, der Religion und dem Chriſtenthum alle meine Kraͤfte zu widmen: allein Gott hat mir das Regentenamt an- vertraut, dem ich alle meine Kraͤfte ſchuldig bin; Sie ſind nun der Mann, den Gott zu dieſem Zweck zubereitet hat. Ich ent- binde Sie daher von allen irdiſchen Verbindlichkeiten, und trage Ihnen auf, durch ihren Briefwechſel und Schriftſtellerei Reli- gion und praktiſches Chriſtenthum an meiner Stelle zu befoͤr- dern; dazu berufe und beſolde ich Sie.“
Das war nun auch meine politiſche und rechtskraͤftige Vo- kation zu meinem kuͤnftigen Beruf, der nichts fehlte, als eine ſchriftliche Ausfertigung, die ich aber nicht fuͤr noͤthig hielt, in- dem ich wohl wußte, daß mich deßfalls Niemand in Anſpruch nehmen wuͤrde. Ich kehrte alſo mit einer innigen Seelenruhe nach Heidelberg zuruͤck, denn nun war ja der große Grundtrieb, der von der Wiege an mein Inneres gedraͤngt hatte, befriedigt. Nur Ein Hauptpunkt ſtoͤrte, ungeachtet meines unerſchuͤtterli- chen Vertrauens auf meinen himmliſchen Fuͤhrer, meine Ruhe: ich fand Alles in Heidelberg ganz anders, als ich es vor zehn und einem halben Jahre verlaſſen hatte; Alles war theuer, nicht wohlfeiler, als in Marburg, Verſchiedenes noch theurer; man hatte uns geſchrieben, wir ſollten unſer Hausgeraͤthe verkaufen, denn wir koͤnnten es in Heidelberg beſſer wieder anſchaffen,
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er als Kameraliſt und Oekonom ſeine Laufbahn in Rußland
antritt; ſeine Guitarre und ſein ſchoͤner maͤnnlicher Geſang ver-
ſcheuchen mir manche truͤbe Stunde. Doch mir faͤllt eben ein,
daß die Großvaͤter und Großmuͤtter gar geſpraͤchig werden, wenn
von ihrer Familie die Rede iſt; um nun nicht in dieſen Fehler
zu verfallen, will ich lieber einlenken, und den Faden meiner
Lebensgeſchichte an Stillings Lehrjahre anknuͤpfen.
Bei meiner Ankunft in Heidelberg 1803 im September, er-
fuhr ich, daß der Großherzog, damals noch Kurfuͤrſt, in Mann-
heim ſey; ich fuhr alſo des andern Tages dahin, um Ihm
perſoͤnlich meine Ankunft anzuzeigen, und mich Ihm zu empfeh-
len. Er empfing mich ſehr gnaͤdig, und ſagte: „Ich freue mich,
Sie in meinem Land zu wiſſen; ich habe von Jugend auf den
Wunſch gehabt, der Religion und dem Chriſtenthum alle meine
Kraͤfte zu widmen: allein Gott hat mir das Regentenamt an-
vertraut, dem ich alle meine Kraͤfte ſchuldig bin; Sie ſind nun
der Mann, den Gott zu dieſem Zweck zubereitet hat. Ich ent-
binde Sie daher von allen irdiſchen Verbindlichkeiten, und trage
Ihnen auf, durch ihren Briefwechſel und Schriftſtellerei Reli-
gion und praktiſches Chriſtenthum an meiner Stelle zu befoͤr-
dern; dazu berufe und beſolde ich Sie.“
Das war nun auch meine politiſche und rechtskraͤftige Vo-
kation zu meinem kuͤnftigen Beruf, der nichts fehlte, als eine
ſchriftliche Ausfertigung, die ich aber nicht fuͤr noͤthig hielt, in-
dem ich wohl wußte, daß mich deßfalls Niemand in Anſpruch
nehmen wuͤrde. Ich kehrte alſo mit einer innigen Seelenruhe
nach Heidelberg zuruͤck, denn nun war ja der große Grundtrieb,
der von der Wiege an mein Inneres gedraͤngt hatte, befriedigt.
Nur Ein Hauptpunkt ſtoͤrte, ungeachtet meines unerſchuͤtterli-
chen Vertrauens auf meinen himmliſchen Fuͤhrer, meine Ruhe:
ich fand Alles in Heidelberg ganz anders, als ich es vor zehn
und einem halben Jahre verlaſſen hatte; Alles war theuer, nicht
wohlfeiler, als in Marburg, Verſchiedenes noch theurer; man
hatte uns geſchrieben, wir ſollten unſer Hausgeraͤthe verkaufen,
denn wir koͤnnten es in Heidelberg beſſer wieder anſchaffen,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/623>, abgerufen am 24.11.2024.
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