An diesem Dienstage, den ersten April, kamen viele Freunde, um ihn nochmals zu sehen, den ehrwürdigen Greis, wie er da lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete. Und ein jedes Herz ward durch diesen Anblick zum Himmel er- hoben, und der Wunsch, einstmals eines gleichen Christentodes zu sterben, erzeugte manche neue edle Entschlüsse des thätigen Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden.
Und wenn dann Vater Stilling seine Freunde zur halboffenen Thüre, die seinem Auge gerade gegenüber stand, herein schauen oder kommen sah, bewies er ihnen seine Liebe durch freundliches Zunicken, und genoß er gerade eines kräftigeren Augenblickes, so sagte er diesem und jenem einige Worte. Dabei verließ ihn nie sein munterer Sinn, der alle Menschen zu ihm von jeher hingerissen hatte. Als eine Freundin durch die Thüre sah, und er es bemerkte, sagte er scherzhaft: "Fr. v. R. guckt durch "das Schlüsselloch." Eine andere Freundin kam gegen Mittag, und dankend für die Bekanntschaft, welche sie nebst den andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, sprach sie von dem herrlichen reinen Gemüthe, das ihm der Herr gegeben habe, worauf er erwiederte: "O, Sie müssen nicht loben!" Derselben erzählte er nachher, indem er den Zeitraum seines gan- zen Lebens, der, wie er selbst sagte, lange wäre, aber ihm wie ein Traum vorkäme, überdachte: "Da habe ich einmal in mei- "ner Jugend eine kleine Flöte gehabt, die fiel mir auf den Bo- "den und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und "sie kostete nur zwölf Kreuzer, aber damals war das Geld rar," und fuhr dann fort: "Sagt, was haben nun eigentlich die Re- "censenten gegen mich ausrichten können? Sie haben schreiben "mögen, was sie wollten, so hat's nichts geholfen!" Um diese Zeit ließ er mich rufen und fragte: "Sage, wie wird denn das Jubiläum des Reformationsfestes dieses Jahr gefeiert?" Als ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu die- sem wichtigen Feste versäumen, und daß es in manchen Län- dern gewiß nicht in Vergessenheit gerathen werde, antwortete er: Ja, ich habe davon gehört, ja wohl; so war er in dieser An- gelegenheit beruhigt.
In der Mittagszeit wollte er sich wieder mehr selbst überlas-
An dieſem Dienſtage, den erſten April, kamen viele Freunde, um ihn nochmals zu ſehen, den ehrwuͤrdigen Greis, wie er da lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete. Und ein jedes Herz ward durch dieſen Anblick zum Himmel er- hoben, und der Wunſch, einſtmals eines gleichen Chriſtentodes zu ſterben, erzeugte manche neue edle Entſchluͤſſe des thaͤtigen Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden.
Und wenn dann Vater Stilling ſeine Freunde zur halboffenen Thuͤre, die ſeinem Auge gerade gegenuͤber ſtand, herein ſchauen oder kommen ſah, bewies er ihnen ſeine Liebe durch freundliches Zunicken, und genoß er gerade eines kraͤftigeren Augenblickes, ſo ſagte er dieſem und jenem einige Worte. Dabei verließ ihn nie ſein munterer Sinn, der alle Menſchen zu ihm von jeher hingeriſſen hatte. Als eine Freundin durch die Thuͤre ſah, und er es bemerkte, ſagte er ſcherzhaft: „Fr. v. R. guckt durch „das Schluͤſſelloch.“ Eine andere Freundin kam gegen Mittag, und dankend fuͤr die Bekanntſchaft, welche ſie nebſt den andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, ſprach ſie von dem herrlichen reinen Gemuͤthe, das ihm der Herr gegeben habe, worauf er erwiederte: „O, Sie muͤſſen nicht loben!“ Derſelben erzaͤhlte er nachher, indem er den Zeitraum ſeines gan- zen Lebens, der, wie er ſelbſt ſagte, lange waͤre, aber ihm wie ein Traum vorkaͤme, uͤberdachte: „Da habe ich einmal in mei- „ner Jugend eine kleine Floͤte gehabt, die fiel mir auf den Bo- „den und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und „ſie koſtete nur zwoͤlf Kreuzer, aber damals war das Geld rar,“ und fuhr dann fort: „Sagt, was haben nun eigentlich die Re- „cenſenten gegen mich ausrichten koͤnnen? Sie haben ſchreiben „moͤgen, was ſie wollten, ſo hat’s nichts geholfen!“ Um dieſe Zeit ließ er mich rufen und fragte: „Sage, wie wird denn das Jubilaͤum des Reformationsfeſtes dieſes Jahr gefeiert?“ Als ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu die- ſem wichtigen Feſte verſaͤumen, und daß es in manchen Laͤn- dern gewiß nicht in Vergeſſenheit gerathen werde, antwortete er: Ja, ich habe davon gehoͤrt, ja wohl; ſo war er in dieſer An- gelegenheit beruhigt.
In der Mittagszeit wollte er ſich wieder mehr ſelbſt uͤberlaſ-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0649"n="641"/><p>An dieſem Dienſtage, den erſten April, kamen viele Freunde,<lb/>
um ihn nochmals zu ſehen, den ehrwuͤrdigen Greis, wie er da<lb/>
lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete.<lb/>
Und ein jedes Herz ward durch dieſen Anblick zum Himmel er-<lb/>
hoben, und der Wunſch, einſtmals eines gleichen Chriſtentodes<lb/>
zu ſterben, erzeugte manche neue edle Entſchluͤſſe des thaͤtigen<lb/>
Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden.</p><lb/><p>Und wenn dann Vater Stilling ſeine Freunde zur halboffenen<lb/>
Thuͤre, die ſeinem Auge gerade gegenuͤber ſtand, herein ſchauen<lb/>
oder kommen ſah, bewies er ihnen ſeine Liebe durch freundliches<lb/>
Zunicken, und genoß er gerade eines kraͤftigeren Augenblickes,<lb/>ſo ſagte er dieſem und jenem einige Worte. Dabei verließ ihn<lb/>
nie ſein munterer Sinn, der alle Menſchen zu ihm von jeher<lb/>
hingeriſſen hatte. Als eine Freundin durch die Thuͤre ſah, und<lb/>
er es bemerkte, ſagte er ſcherzhaft: „<hirendition="#g">Fr. v. R. guckt durch<lb/>„das Schluͤſſelloch</hi>.“ Eine andere Freundin kam gegen<lb/>
Mittag, und dankend fuͤr die Bekanntſchaft, welche ſie nebſt den<lb/>
andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, ſprach ſie<lb/>
von dem herrlichen reinen Gemuͤthe, das ihm der Herr gegeben<lb/>
habe, worauf er erwiederte: „<hirendition="#g">O, Sie muͤſſen nicht loben</hi>!“<lb/>
Derſelben erzaͤhlte er nachher, indem er den Zeitraum ſeines gan-<lb/>
zen Lebens, der, wie er ſelbſt ſagte, lange waͤre, aber ihm wie<lb/>
ein Traum vorkaͤme, uͤberdachte: „Da habe ich einmal in mei-<lb/>„ner Jugend eine kleine Floͤte gehabt, die fiel mir auf den Bo-<lb/>„den und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und<lb/>„ſie koſtete nur zwoͤlf Kreuzer, aber damals war das Geld rar,“<lb/>
und fuhr dann fort: „Sagt, was haben nun eigentlich die Re-<lb/>„cenſenten gegen mich ausrichten koͤnnen? Sie haben ſchreiben<lb/>„moͤgen, was ſie wollten, ſo hat’s nichts geholfen!“ Um dieſe<lb/>
Zeit ließ er mich rufen und fragte: „Sage, wie wird denn das<lb/>
Jubilaͤum des Reformationsfeſtes dieſes Jahr gefeiert?“ Als<lb/>
ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu die-<lb/>ſem wichtigen Feſte verſaͤumen, und daß es in manchen Laͤn-<lb/>
dern gewiß nicht in Vergeſſenheit gerathen werde, antwortete er:<lb/>
Ja, ich habe davon gehoͤrt, ja wohl; ſo war er in dieſer An-<lb/>
gelegenheit beruhigt.</p><lb/><p>In der Mittagszeit wollte er ſich wieder mehr ſelbſt uͤberlaſ-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[641/0649]
An dieſem Dienſtage, den erſten April, kamen viele Freunde,
um ihn nochmals zu ſehen, den ehrwuͤrdigen Greis, wie er da
lag mit aller Glaubenskraft, und freudig und feierlich duldete.
Und ein jedes Herz ward durch dieſen Anblick zum Himmel er-
hoben, und der Wunſch, einſtmals eines gleichen Chriſtentodes
zu ſterben, erzeugte manche neue edle Entſchluͤſſe des thaͤtigen
Lebens zur Verherrlichung Gottes auf Erden.
Und wenn dann Vater Stilling ſeine Freunde zur halboffenen
Thuͤre, die ſeinem Auge gerade gegenuͤber ſtand, herein ſchauen
oder kommen ſah, bewies er ihnen ſeine Liebe durch freundliches
Zunicken, und genoß er gerade eines kraͤftigeren Augenblickes,
ſo ſagte er dieſem und jenem einige Worte. Dabei verließ ihn
nie ſein munterer Sinn, der alle Menſchen zu ihm von jeher
hingeriſſen hatte. Als eine Freundin durch die Thuͤre ſah, und
er es bemerkte, ſagte er ſcherzhaft: „Fr. v. R. guckt durch
„das Schluͤſſelloch.“ Eine andere Freundin kam gegen
Mittag, und dankend fuͤr die Bekanntſchaft, welche ſie nebſt den
andern durch Gottes Gnade mit ihm gemacht habe, ſprach ſie
von dem herrlichen reinen Gemuͤthe, das ihm der Herr gegeben
habe, worauf er erwiederte: „O, Sie muͤſſen nicht loben!“
Derſelben erzaͤhlte er nachher, indem er den Zeitraum ſeines gan-
zen Lebens, der, wie er ſelbſt ſagte, lange waͤre, aber ihm wie
ein Traum vorkaͤme, uͤberdachte: „Da habe ich einmal in mei-
„ner Jugend eine kleine Floͤte gehabt, die fiel mir auf den Bo-
„den und zerbrach, und da weinte ich zwei Tage lang; und
„ſie koſtete nur zwoͤlf Kreuzer, aber damals war das Geld rar,“
und fuhr dann fort: „Sagt, was haben nun eigentlich die Re-
„cenſenten gegen mich ausrichten koͤnnen? Sie haben ſchreiben
„moͤgen, was ſie wollten, ſo hat’s nichts geholfen!“ Um dieſe
Zeit ließ er mich rufen und fragte: „Sage, wie wird denn das
Jubilaͤum des Reformationsfeſtes dieſes Jahr gefeiert?“ Als
ich ihm in der Ueberzeugung, daß man keine Feierlichkeit zu die-
ſem wichtigen Feſte verſaͤumen, und daß es in manchen Laͤn-
dern gewiß nicht in Vergeſſenheit gerathen werde, antwortete er:
Ja, ich habe davon gehoͤrt, ja wohl; ſo war er in dieſer An-
gelegenheit beruhigt.
In der Mittagszeit wollte er ſich wieder mehr ſelbſt uͤberlaſ-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/649>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.