Abscheu; doch aber, weil er beständig von Gott und frommen Menschen reden hörte, so wurde er unvermerkt in einen Gesichts- punkt gestellt, aus dem er Alles beobachtete. Das Erste, wornach er fragte, wenn er von Jemand etwas las oder reden hörte, bezog sich auf seine Gesinnung gegen Gott und Chri- stum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben der Altväter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhören zu le- sen, und dieses Buch, nebst Reizens Historie der Wiederge- bornen, blieb sein bestes Vergnügen in der Welt, bis ins zehnte Jahr seines Alters; aber alle diese Personen, deren Lebens- beschreibungen er las, blieben so fest in seiner Einbildungskraft idealisirt, daß er sie nie in seinem Leben vergessen hat.
Am Nachmittag, von zwei bis drei Uhr, oder auch etwas länger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geisenber- ger Wald spatzieren; er hatte ihm daselbst einen Distrikt an- gewiesen, den er sich zu seinen Belustigungen zueignen, aber über welchen er nicht weiter ohne Gesellschaft seines Vaters hinausgehen dürfte. Diese Gegend war nicht größer, als Wil- helm aus seinem Fenster übersehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren möchte. War denn die gesetzte Zeit um, oder wenn sich auch ein Nachbars-Kind Heinrichen von weitem näherte, so pfiff Wilhelm, und auf dieses Zeichen war er den Augenblick wieder bei seinem Vater.
Diese Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Wal- des, der an den Hof gränzte, wurde von unserem jungen Kna- ben also täglich bei gutem Wetter besucht, und zu lauter idea- lischen Landschaften gemacht. Da war eine egyptische Wüste, in welcher er einen Strauch zur Höhle umbildete, in welche er sich verbarg und den heiligen Antonius vorstellte, betete auch wohl in diesem Enthusiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunu der Melusine; dort war die Türkei, wo der Sultan und seine Tochter, die schöne Marcebilla, wohn- ten; da war auf einem Felsen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u. s. w. Nach diesen Oertern wall- fahrtete er täglich, kein Mensch kann sich die Wonne einbil- den, die der Knabe daselbst genoß; sein Geist floß über, er stammelte Reimen und hatte dichterische Einfälle. So war die
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Abſcheu; doch aber, weil er beſtaͤndig von Gott und frommen Menſchen reden hoͤrte, ſo wurde er unvermerkt in einen Geſichts- punkt geſtellt, aus dem er Alles beobachtete. Das Erſte, wornach er fragte, wenn er von Jemand etwas las oder reden hoͤrte, bezog ſich auf ſeine Geſinnung gegen Gott und Chri- ſtum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben der Altvaͤter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhoͤren zu le- ſen, und dieſes Buch, nebſt Reizens Hiſtorie der Wiederge- bornen, blieb ſein beſtes Vergnuͤgen in der Welt, bis ins zehnte Jahr ſeines Alters; aber alle dieſe Perſonen, deren Lebens- beſchreibungen er las, blieben ſo feſt in ſeiner Einbildungskraft idealiſirt, daß er ſie nie in ſeinem Leben vergeſſen hat.
Am Nachmittag, von zwei bis drei Uhr, oder auch etwas laͤnger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geiſenber- ger Wald ſpatzieren; er hatte ihm daſelbſt einen Diſtrikt an- gewieſen, den er ſich zu ſeinen Beluſtigungen zueignen, aber uͤber welchen er nicht weiter ohne Geſellſchaft ſeines Vaters hinausgehen duͤrfte. Dieſe Gegend war nicht groͤßer, als Wil- helm aus ſeinem Fenſter uͤberſehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren moͤchte. War denn die geſetzte Zeit um, oder wenn ſich auch ein Nachbars-Kind Heinrichen von weitem naͤherte, ſo pfiff Wilhelm, und auf dieſes Zeichen war er den Augenblick wieder bei ſeinem Vater.
Dieſe Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Wal- des, der an den Hof graͤnzte, wurde von unſerem jungen Kna- ben alſo taͤglich bei gutem Wetter beſucht, und zu lauter idea- liſchen Landſchaften gemacht. Da war eine egyptiſche Wuͤſte, in welcher er einen Strauch zur Hoͤhle umbildete, in welche er ſich verbarg und den heiligen Antonius vorſtellte, betete auch wohl in dieſem Enthuſiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunu der Meluſine; dort war die Tuͤrkei, wo der Sultan und ſeine Tochter, die ſchoͤne Marcebilla, wohn- ten; da war auf einem Felſen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u. ſ. w. Nach dieſen Oertern wall- fahrtete er taͤglich, kein Menſch kann ſich die Wonne einbil- den, die der Knabe daſelbſt genoß; ſein Geiſt floß uͤber, er ſtammelte Reimen und hatte dichteriſche Einfaͤlle. So war die
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Abſcheu; doch aber, weil er beſtaͤndig von Gott und frommen
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wornach er fragte, wenn er von Jemand etwas las oder reden
hoͤrte, bezog ſich auf ſeine Geſinnung gegen Gott und Chri-
ſtum. Daher, als er einmal Gottfried Arnolds Leben
der Altvaͤter bekam, konnte er gar nicht mehr aufhoͤren zu le-
ſen, und dieſes Buch, nebſt Reizens Hiſtorie der Wiederge-
bornen, blieb ſein beſtes Vergnuͤgen in der Welt, bis ins zehnte
Jahr ſeines Alters; aber alle dieſe Perſonen, deren Lebens-
beſchreibungen er las, blieben ſo feſt in ſeiner Einbildungskraft
idealiſirt, daß er ſie nie in ſeinem Leben vergeſſen hat.
Am Nachmittag, von zwei bis drei Uhr, oder auch etwas
laͤnger, ließ ihn Wilhelm in den Baumhof und Geiſenber-
ger Wald ſpatzieren; er hatte ihm daſelbſt einen Diſtrikt an-
gewieſen, den er ſich zu ſeinen Beluſtigungen zueignen, aber
uͤber welchen er nicht weiter ohne Geſellſchaft ſeines Vaters
hinausgehen duͤrfte. Dieſe Gegend war nicht groͤßer, als Wil-
helm aus ſeinem Fenſter uͤberſehen konnte, damit er ihn nie
aus den Augen verlieren moͤchte. War denn die geſetzte Zeit
um, oder wenn ſich auch ein Nachbars-Kind Heinrichen von
weitem naͤherte, ſo pfiff Wilhelm, und auf dieſes Zeichen
war er den Augenblick wieder bei ſeinem Vater.
Dieſe Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Wal-
des, der an den Hof graͤnzte, wurde von unſerem jungen Kna-
ben alſo taͤglich bei gutem Wetter beſucht, und zu lauter idea-
liſchen Landſchaften gemacht. Da war eine egyptiſche Wuͤſte,
in welcher er einen Strauch zur Hoͤhle umbildete, in welche er
ſich verbarg und den heiligen Antonius vorſtellte, betete auch
wohl in dieſem Enthuſiasmus recht herzlich. In einer andern
Gegend war der Brunu der Meluſine; dort war die Tuͤrkei,
wo der Sultan und ſeine Tochter, die ſchoͤne Marcebilla, wohn-
ten; da war auf einem Felſen das Schloß Montalban, in
welchem Reinold wohnte u. ſ. w. Nach dieſen Oertern wall-
fahrtete er taͤglich, kein Menſch kann ſich die Wonne einbil-
den, die der Knabe daſelbſt genoß; ſein Geiſt floß uͤber, er
ſtammelte Reimen und hatte dichteriſche Einfaͤlle. So war die
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/75>, abgerufen am 26.11.2024.
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