Nachts, er fände eine bluthrothe Blume, in deren Mitte eine schöne große Perle war; die Blume bräch er ab, ging damit zum Schlosse; alles, was er mit der Blume berührte, ward von der Zauberei frei; auch träumte er, er hätte seine Jorinde dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Thal zu suchen, ob er eine solche Blume fände; er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrothe Blume am Morgen früh. In der Mitte war ein großer Thautropfe, so groß wie die schönste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Nu! es war mir gut! Wie er auf hundert Schritte nahe dem Schloß kam, da wurd' er nicht fest, sondern ging fort bis ans Thor. Joringel freute sich hoch, berührte die Pforte mit der Blume und sie sprang auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die viert[n] Vögel vernähm'. Endlich hört er's; er ging und fand den Saal; darauf war die Zauberin, fütterte die Vögel in den sieben tausend Körben. Wie sie den Joringel sah, ward sie bös, sehr bös, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnt' auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrt' sich nicht an sie, und ging, besah die Körbe mit den Vögeln; da waren aber viel hundert Nachtigallen; wie sollte er nun seine Jorinde wieder finden! Indem er so zusah, merkte er, daß die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel nimmt und damit nach der Thüre geht. Flugs sprang er hinzu, be- rührte das Körbchen mit der Blume, und auch das alte Weib; nun konnte sie nichts mehr zaubern; und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefaßt, so schön als sie ehemals war. Da macht' er auch all die andern Vögel wieder zu Jungfern, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und lebten lange vergnügt zusammen."
Heinrich saß wie versteinert, seine Augen starrten g'rad aus, und der Mund war halb offen. Baase! sagte er endlich, das könnt einem des Nachts bange machen. Ja, sagte sie, ich erzähl's auch des Nachts nicht, sonst werd' ich selber bang. Indem sie so saßen, pfiff Vater Stilling. Mariechen und Heinrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange hernach kam er, sah munter und fröhlich aus, als wenn er
Nachts, er faͤnde eine bluthrothe Blume, in deren Mitte eine ſchoͤne große Perle war; die Blume braͤch er ab, ging damit zum Schloſſe; alles, was er mit der Blume beruͤhrte, ward von der Zauberei frei; auch traͤumte er, er haͤtte ſeine Jorinde dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Thal zu ſuchen, ob er eine ſolche Blume faͤnde; er ſuchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrothe Blume am Morgen fruͤh. In der Mitte war ein großer Thautropfe, ſo groß wie die ſchoͤnſte Perle. Dieſe Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Nu! es war mir gut! Wie er auf hundert Schritte nahe dem Schloß kam, da wurd’ er nicht feſt, ſondern ging fort bis ans Thor. Joringel freute ſich hoch, beruͤhrte die Pforte mit der Blume und ſie ſprang auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die viert[n] Voͤgel vernaͤhm’. Endlich hoͤrt er’s; er ging und fand den Saal; darauf war die Zauberin, fuͤtterte die Voͤgel in den ſieben tauſend Koͤrben. Wie ſie den Joringel ſah, ward ſie boͤs, ſehr boͤs, ſchalt, ſpie Gift und Galle gegen ihn aus, aber ſie konnt’ auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrt’ ſich nicht an ſie, und ging, beſah die Koͤrbe mit den Voͤgeln; da waren aber viel hundert Nachtigallen; wie ſollte er nun ſeine Jorinde wieder finden! Indem er ſo zuſah, merkte er, daß die Alte heimlich ein Koͤrbchen mit einem Vogel nimmt und damit nach der Thuͤre geht. Flugs ſprang er hinzu, be- ruͤhrte das Koͤrbchen mit der Blume, und auch das alte Weib; nun konnte ſie nichts mehr zaubern; und Jorinde ſtand da, hatte ihn um den Hals gefaßt, ſo ſchoͤn als ſie ehemals war. Da macht’ er auch all die andern Voͤgel wieder zu Jungfern, und da ging er mit ſeiner Jorinde nach Hauſe, und lebten lange vergnuͤgt zuſammen.“
Heinrich ſaß wie verſteinert, ſeine Augen ſtarrten g’rad aus, und der Mund war halb offen. Baaſe! ſagte er endlich, das koͤnnt einem des Nachts bange machen. Ja, ſagte ſie, ich erzaͤhl’s auch des Nachts nicht, ſonſt werd’ ich ſelber bang. Indem ſie ſo ſaßen, pfiff Vater Stilling. Mariechen und Heinrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange hernach kam er, ſah munter und froͤhlich aus, als wenn er
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Nachts, er faͤnde eine bluthrothe Blume, in deren Mitte eine
ſchoͤne große Perle war; die Blume braͤch er ab, ging damit
zum Schloſſe; alles, was er mit der Blume beruͤhrte, ward
von der Zauberei frei; auch traͤumte er, er haͤtte ſeine Jorinde
dadurch wieder bekommen. Des Morgens, als er erwachte,
fing er an, durch Berg und Thal zu ſuchen, ob er eine ſolche
Blume faͤnde; er ſuchte bis an den neunten Tag, da fand er
die blutrothe Blume am Morgen fruͤh. In der Mitte war
ein großer Thautropfe, ſo groß wie die ſchoͤnſte Perle. Dieſe
Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloß. Nu! es
war mir gut! Wie er auf hundert Schritte nahe dem Schloß
kam, da wurd’ er nicht feſt, ſondern ging fort bis ans Thor.
Joringel freute ſich hoch, beruͤhrte die Pforte mit der Blume
und ſie ſprang auf; er ging hinein, durch den Hof, horchte,
wo er die viertn Voͤgel vernaͤhm’. Endlich hoͤrt er’s; er ging
und fand den Saal; darauf war die Zauberin, fuͤtterte die
Voͤgel in den ſieben tauſend Koͤrben. Wie ſie den Joringel ſah,
ward ſie boͤs, ſehr boͤs, ſchalt, ſpie Gift und Galle gegen ihn
aus, aber ſie konnt’ auf zwei Schritte nicht an ihn kommen.
Er kehrt’ ſich nicht an ſie, und ging, beſah die Koͤrbe mit den
Voͤgeln; da waren aber viel hundert Nachtigallen; wie ſollte
er nun ſeine Jorinde wieder finden! Indem er ſo zuſah, merkte
er, daß die Alte heimlich ein Koͤrbchen mit einem Vogel nimmt
und damit nach der Thuͤre geht. Flugs ſprang er hinzu, be-
ruͤhrte das Koͤrbchen mit der Blume, und auch das alte Weib;
nun konnte ſie nichts mehr zaubern; und Jorinde ſtand da,
hatte ihn um den Hals gefaßt, ſo ſchoͤn als ſie ehemals war.
Da macht’ er auch all die andern Voͤgel wieder zu Jungfern,
und da ging er mit ſeiner Jorinde nach Hauſe, und lebten
lange vergnuͤgt zuſammen.“
Heinrich ſaß wie verſteinert, ſeine Augen ſtarrten g’rad
aus, und der Mund war halb offen. Baaſe! ſagte er endlich,
das koͤnnt einem des Nachts bange machen. Ja, ſagte ſie,
ich erzaͤhl’s auch des Nachts nicht, ſonſt werd’ ich ſelber bang.
Indem ſie ſo ſaßen, pfiff Vater Stilling. Mariechen
und Heinrich antworteten mit einem He! He! Nicht lange
hernach kam er, ſah munter und froͤhlich aus, als wenn er
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/96>, abgerufen am 24.11.2024.
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