Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.Zweites Buch. Nur ein "süsses Kindergesicht" kann man darin nicht finden 1). Esist eine ganz unbedeutende, farblose Physiognomie: kurze Stirn, starke Backenknochen, zurückweichendes Kinn, der gesenkte Blick auf den Punkt gerichtet, den der Maler ihr geheissen zu fixiren. Nur ihre schwarzen Haare sind vorschriftsmässig ins röthlich blonde (color do oro) übertragen worden; gegen den Kanon ist die Farbe des Kleides, das nicht weiss, sondern ein schwaches violett ist: keine gute Zusammenstellung mit dem blauen Mantel. Er hatte eine moza de venta zur Himmelskönigin gemacht. Solche Modelle armer Mädchen wählte auch der gleichaltrige Dass eine so nüchterne und leere Gestalt, ohne Adel, Grösse, Der himmlische und landschaftliche Hintergrund ist jetzt Auch in dem zweiten Gemälde des Sehers Johannes schloss 1) Mrs. Jameson, Legends of the Madonna, p. 49, beschreibt das Bild aus-
führlich. The solemnity and depth of expression in the sweet girlish face is very striking; the more so, that it is not a beautiful face etc. Pacheco schrieb 13 bis 14 Jahre vor. Zweites Buch. Nur ein „süsses Kindergesicht“ kann man darin nicht finden 1). Esist eine ganz unbedeutende, farblose Physiognomie: kurze Stirn, starke Backenknochen, zurückweichendes Kinn, der gesenkte Blick auf den Punkt gerichtet, den der Maler ihr geheissen zu fixiren. Nur ihre schwarzen Haare sind vorschriftsmässig ins röthlich blonde (color do oro) übertragen worden; gegen den Kanon ist die Farbe des Kleides, das nicht weiss, sondern ein schwaches violett ist: keine gute Zusammenstellung mit dem blauen Mantel. Er hatte eine moza de venta zur Himmelskönigin gemacht. Solche Modelle armer Mädchen wählte auch der gleichaltrige Dass eine so nüchterne und leere Gestalt, ohne Adel, Grösse, Der himmlische und landschaftliche Hintergrund ist jetzt Auch in dem zweiten Gemälde des Sehers Johannes schloss 1) Mrs. Jameson, Legends of the Madonna, p. 49, beschreibt das Bild aus-
führlich. The solemnity and depth of expression in the sweet girlish face is very striking; the more so, that it is not a beautiful face etc. Pacheco schrieb 13 bis 14 Jahre vor. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0164" n="144"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch.</fw><lb/> Nur ein „süsses Kindergesicht“ kann man darin nicht finden <note place="foot" n="1)">Mrs. Jameson, Legends of the Madonna, p. 49, beschreibt das Bild aus-<lb/> führlich. The solemnity and depth of expression in the sweet girlish face is very<lb/> striking; the more so, that it is not a beautiful face etc. Pacheco schrieb 13 bis<lb/> 14 Jahre vor.</note>. Es<lb/> ist eine ganz unbedeutende, farblose Physiognomie: kurze Stirn,<lb/> starke Backenknochen, zurückweichendes Kinn, der gesenkte<lb/> Blick auf den Punkt gerichtet, den der Maler ihr geheissen zu<lb/> fixiren. Nur ihre schwarzen Haare sind vorschriftsmässig ins<lb/> röthlich blonde (<hi rendition="#i">color do oro</hi>) übertragen worden; <hi rendition="#i">gegen</hi> den Kanon<lb/> ist die Farbe des Kleides, das nicht weiss, sondern ein schwaches<lb/> violett ist: keine gute Zusammenstellung mit dem blauen Mantel.<lb/> Er hatte eine <hi rendition="#i">moza de venta</hi> zur Himmelskönigin gemacht.</p><lb/> <p>Solche Modelle armer Mädchen wählte auch der gleichaltrige<lb/> und gleichgesinnte Francisco Zurbaran für seine heiligen Frauen,<lb/> obwol etwas hübschere und von mehr Race. Es sind niedliche,<lb/> etwas spitze Köpfchen mit schwarzen Augen, aus denen aber<lb/> nur die Beschränktheit ihres Verstands- und Gemüthslebens spricht.</p><lb/> <p>Dass eine so nüchterne und leere Gestalt, ohne Adel, Grösse,<lb/> Schönheit und Leben in diesen Tagen der Hochfluth marianischer<lb/> Devotion geschaffen wurde, verschuldete nicht bloss die Jugend<lb/> des Malers oder sein Mangel an Beruf für religiöse Kunst.<lb/> Fromme Schwärmerei allein vermag Bildwerken noch nicht einen<lb/> Funken Leben einzuhauchen, und, wie die oben citirte <hi rendition="#i">cuarteta</hi><lb/> des Miguel Cid beweist, auch Versen nicht.</p><lb/> <p>Der himmlische und landschaftliche Hintergrund ist jetzt<lb/> ganz versunken und unscheinbar geworden infolge des Durch-<lb/> wachsens des Grundes.</p><lb/> <p>Auch in dem zweiten Gemälde des <hi rendition="#i">Sehers Johannes</hi> schloss<lb/> sich der Maler in der Erfindung eng an die Ueberlieferung.<lb/> Johannes der Evangelist wurde von Alters her dargestellt<lb/> beim Empfang dieser Vision, im Mittelalter als hochbetagter<lb/> Greis (wie ihn noch Memlinc malte), im sechzehnten Jahrhundert<lb/> als lockiger Jüngling. Die Insel Patmos gab den Vorwand zu<lb/> einer reichen Waldlandschaft. So in dem durch mehrere Kupfer-<lb/> stiche (z. B. Johann Sadelers) verbreiteten Gemälde des Martin<lb/> de Vos, das auch von Italienern nachgestochen wurde. Wie in<lb/> diesem Blatt, sitzt Johannes auch in unserer Leinwand rechts am<lb/> Rand der Bildfläche. Die Linke im aufgeschlagenen Buch, doch<lb/> den Zeigefinger aufhorchend erhoben, die Rechte mit der Feder<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [144/0164]
Zweites Buch.
Nur ein „süsses Kindergesicht“ kann man darin nicht finden 1). Es
ist eine ganz unbedeutende, farblose Physiognomie: kurze Stirn,
starke Backenknochen, zurückweichendes Kinn, der gesenkte
Blick auf den Punkt gerichtet, den der Maler ihr geheissen zu
fixiren. Nur ihre schwarzen Haare sind vorschriftsmässig ins
röthlich blonde (color do oro) übertragen worden; gegen den Kanon
ist die Farbe des Kleides, das nicht weiss, sondern ein schwaches
violett ist: keine gute Zusammenstellung mit dem blauen Mantel.
Er hatte eine moza de venta zur Himmelskönigin gemacht.
Solche Modelle armer Mädchen wählte auch der gleichaltrige
und gleichgesinnte Francisco Zurbaran für seine heiligen Frauen,
obwol etwas hübschere und von mehr Race. Es sind niedliche,
etwas spitze Köpfchen mit schwarzen Augen, aus denen aber
nur die Beschränktheit ihres Verstands- und Gemüthslebens spricht.
Dass eine so nüchterne und leere Gestalt, ohne Adel, Grösse,
Schönheit und Leben in diesen Tagen der Hochfluth marianischer
Devotion geschaffen wurde, verschuldete nicht bloss die Jugend
des Malers oder sein Mangel an Beruf für religiöse Kunst.
Fromme Schwärmerei allein vermag Bildwerken noch nicht einen
Funken Leben einzuhauchen, und, wie die oben citirte cuarteta
des Miguel Cid beweist, auch Versen nicht.
Der himmlische und landschaftliche Hintergrund ist jetzt
ganz versunken und unscheinbar geworden infolge des Durch-
wachsens des Grundes.
Auch in dem zweiten Gemälde des Sehers Johannes schloss
sich der Maler in der Erfindung eng an die Ueberlieferung.
Johannes der Evangelist wurde von Alters her dargestellt
beim Empfang dieser Vision, im Mittelalter als hochbetagter
Greis (wie ihn noch Memlinc malte), im sechzehnten Jahrhundert
als lockiger Jüngling. Die Insel Patmos gab den Vorwand zu
einer reichen Waldlandschaft. So in dem durch mehrere Kupfer-
stiche (z. B. Johann Sadelers) verbreiteten Gemälde des Martin
de Vos, das auch von Italienern nachgestochen wurde. Wie in
diesem Blatt, sitzt Johannes auch in unserer Leinwand rechts am
Rand der Bildfläche. Die Linke im aufgeschlagenen Buch, doch
den Zeigefinger aufhorchend erhoben, die Rechte mit der Feder
1) Mrs. Jameson, Legends of the Madonna, p. 49, beschreibt das Bild aus-
führlich. The solemnity and depth of expression in the sweet girlish face is very
striking; the more so, that it is not a beautiful face etc. Pacheco schrieb 13 bis
14 Jahre vor.
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