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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Die mittelalterliche Kunst.
einer gothischen Kathedrale von unerhörtem Flächenraum
(1403--1508). Ihre Ausführung und Ausstattung zog einen Strom
von Meistern der anderen Provinzen und des Auslands herbei.
Seitdem verdrängte der niederdeutsche Einfluss und Geschmack
den maurischen und französischen. Die Glasmaler waren sämmt-
lich Niederländer. Die fünfzig Reliefs der Chorstühle von Nufro
Sanchez (1475--78) sind sinnig ja launig erfundene Scenen von we-
nigen aber fein gezeichneten Figürchen, verwandt den Compositio-
nen der Kleinmeister und Illustratoren des folgenden Jahrhunderts.
In dem Riesenretablo, den Danchart entwarf (1482; vollendet 1526)
dringt am Schluss schon der italienische Stil ein: der Florentiner
Domenico Alessandro war daran betheiligt. Das beste Stück
darin ist die Pietas hoch oben, von Pedro Fernandez Aleman.

Die erkennbarste Persönlichkeit unter diesen Imagineros ist,
Dank der neusten Forschung, Pedro Millan.1) Zwar seine Haupt-
arbeiten in dem im Jahre 1511 eingestürzten Cimborio, für den er
mit dem Florentiner Michael und jenem Fernandez Aleman Statuen
geliefert, sind verloren. Aber die Virgen del pilar in deren
Kapelle ist die edelste Madonnenstatue in Sevilla, eine hohe ernste
Spanierin, und ihr Jesusknabe vielleicht der wahrhaftigste unter
den tausenden ninnos spanischer Kirchen. Als der Pisaner
Niculoso das Spitzbogenportal von S. Paula im Robbiastil arbeitete,
lieferte ihm Millan die Modelle für die Figürchen. Wahrschein-
lich kam er durch diesen Italiener auf die dort selten verwandte
Thonplastik; sie förderte seinen naturalistischen Hang und seine
Abwendung von der scharfbrüchigen Manier. Die Statuen an
den beiden Westportalen der Kathedrale, grämliche Prälaten
und Apostel mit kugelrunden Nasen, munter lächelnde Dämchen
mit kleinen vorquellenden Halbmondaugen sind noch sehr gothisch
empfunden; der Deutsche denkt an den Dom zu Naumburg. Eine
so wunderliche Mischung der Kunst dreier Nationen ist bezeich-
nend für die Welthandelsstadt, aber auch für die spanische Kunst
überhaupt.

Diess Vorwalten des niederdeutschen Elements ist noch
bemerklicher in der Malerei.

Bekanntlich ist die flandrische Oelmalerei nirgends so früh
eingedrungen als in Spanien, nirgends ist sie so rasch dem ein-
heimischen Geschmacke angepasst worden, von nirgendher sind
Bestellungen in Brügge und Antwerpen so oft erfolgt. Noch

1) Pedro Millan. Von Jose Gestoso y Perez. Sevilla 1885.

Die mittelalterliche Kunst.
einer gothischen Kathedrale von unerhörtem Flächenraum
(1403—1508). Ihre Ausführung und Ausstattung zog einen Strom
von Meistern der anderen Provinzen und des Auslands herbei.
Seitdem verdrängte der niederdeutsche Einfluss und Geschmack
den maurischen und französischen. Die Glasmaler waren sämmt-
lich Niederländer. Die fünfzig Reliefs der Chorstühle von Nufro
Sanchez (1475—78) sind sinnig ja launig erfundene Scenen von we-
nigen aber fein gezeichneten Figürchen, verwandt den Compositio-
nen der Kleinmeister und Illustratoren des folgenden Jahrhunderts.
In dem Riesenretablo, den Danchart entwarf (1482; vollendet 1526)
dringt am Schluss schon der italienische Stil ein: der Florentiner
Domenico Alessandro war daran betheiligt. Das beste Stück
darin ist die Pietas hoch oben, von Pedro Fernandez Aleman.

Die erkennbarste Persönlichkeit unter diesen Imagineros ist,
Dank der neusten Forschung, Pedro Millan.1) Zwar seine Haupt-
arbeiten in dem im Jahre 1511 eingestürzten Cimborio, für den er
mit dem Florentiner Michael und jenem Fernandez Aleman Statuen
geliefert, sind verloren. Aber die Virgen del pilar in deren
Kapelle ist die edelste Madonnenstatue in Sevilla, eine hohe ernste
Spanierin, und ihr Jesusknabe vielleicht der wahrhaftigste unter
den tausenden niños spanischer Kirchen. Als der Pisaner
Niculoso das Spitzbogenportal von S. Paula im Robbiastil arbeitete,
lieferte ihm Millan die Modelle für die Figürchen. Wahrschein-
lich kam er durch diesen Italiener auf die dort selten verwandte
Thonplastik; sie förderte seinen naturalistischen Hang und seine
Abwendung von der scharfbrüchigen Manier. Die Statuen an
den beiden Westportalen der Kathedrale, grämliche Prälaten
und Apostel mit kugelrunden Nasen, munter lächelnde Dämchen
mit kleinen vorquellenden Halbmondaugen sind noch sehr gothisch
empfunden; der Deutsche denkt an den Dom zu Naumburg. Eine
so wunderliche Mischung der Kunst dreier Nationen ist bezeich-
nend für die Welthandelsstadt, aber auch für die spanische Kunst
überhaupt.

Diess Vorwalten des niederdeutschen Elements ist noch
bemerklicher in der Malerei.

Bekanntlich ist die flandrische Oelmalerei nirgends so früh
eingedrungen als in Spanien, nirgends ist sie so rasch dem ein-
heimischen Geschmacke angepasst worden, von nirgendher sind
Bestellungen in Brügge und Antwerpen so oft erfolgt. Noch

1) Pedro Millan. Von José Gestoso y Perez. Sevilla 1885.
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[37/0057] Die mittelalterliche Kunst. einer gothischen Kathedrale von unerhörtem Flächenraum (1403—1508). Ihre Ausführung und Ausstattung zog einen Strom von Meistern der anderen Provinzen und des Auslands herbei. Seitdem verdrängte der niederdeutsche Einfluss und Geschmack den maurischen und französischen. Die Glasmaler waren sämmt- lich Niederländer. Die fünfzig Reliefs der Chorstühle von Nufro Sanchez (1475—78) sind sinnig ja launig erfundene Scenen von we- nigen aber fein gezeichneten Figürchen, verwandt den Compositio- nen der Kleinmeister und Illustratoren des folgenden Jahrhunderts. In dem Riesenretablo, den Danchart entwarf (1482; vollendet 1526) dringt am Schluss schon der italienische Stil ein: der Florentiner Domenico Alessandro war daran betheiligt. Das beste Stück darin ist die Pietas hoch oben, von Pedro Fernandez Aleman. Die erkennbarste Persönlichkeit unter diesen Imagineros ist, Dank der neusten Forschung, Pedro Millan. 1) Zwar seine Haupt- arbeiten in dem im Jahre 1511 eingestürzten Cimborio, für den er mit dem Florentiner Michael und jenem Fernandez Aleman Statuen geliefert, sind verloren. Aber die Virgen del pilar in deren Kapelle ist die edelste Madonnenstatue in Sevilla, eine hohe ernste Spanierin, und ihr Jesusknabe vielleicht der wahrhaftigste unter den tausenden niños spanischer Kirchen. Als der Pisaner Niculoso das Spitzbogenportal von S. Paula im Robbiastil arbeitete, lieferte ihm Millan die Modelle für die Figürchen. Wahrschein- lich kam er durch diesen Italiener auf die dort selten verwandte Thonplastik; sie förderte seinen naturalistischen Hang und seine Abwendung von der scharfbrüchigen Manier. Die Statuen an den beiden Westportalen der Kathedrale, grämliche Prälaten und Apostel mit kugelrunden Nasen, munter lächelnde Dämchen mit kleinen vorquellenden Halbmondaugen sind noch sehr gothisch empfunden; der Deutsche denkt an den Dom zu Naumburg. Eine so wunderliche Mischung der Kunst dreier Nationen ist bezeich- nend für die Welthandelsstadt, aber auch für die spanische Kunst überhaupt. Diess Vorwalten des niederdeutschen Elements ist noch bemerklicher in der Malerei. Bekanntlich ist die flandrische Oelmalerei nirgends so früh eingedrungen als in Spanien, nirgends ist sie so rasch dem ein- heimischen Geschmacke angepasst worden, von nirgendher sind Bestellungen in Brügge und Antwerpen so oft erfolgt. Noch 1) Pedro Millan. Von José Gestoso y Perez. Sevilla 1885.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/57>, abgerufen am 17.05.2024.