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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Die Kunst der Malerei.
sieht man mehr Geschicklichkeit (valentia) als kirchlichen Takt.
Jene von Roelas, später von Rubens und Murillo so liebenswürdig
behandelte Gruppe der h. Anna als Elementarlehrerin ihres
Kindes, ist heterodox, "weil Maria von ihrer Empfängniss an
Vernunft, Willensfreiheit, Contemplation, eingegossene natürliche
und übernatürliche Wissenschaft besessen hat". "Zu tilgen aus
dem Gedächtniss" ist das Bild der heiligen Sippe. Das Mittel-
alter mit seinen Anachronismen kommt übel weg. Das liebliche
Motiv des Kinderpaares Jesus und Johannes ist eine Ausgeburt
der Einfalt und Unwissenheit (II, 276). Er preist Dürer, der die
heiligsten Füsse der Maria nie gezeigt habe. "Dank sei der
heiligen Inquisition, welche diese Freiheit zu korrigiren ge-
bietet."

Hier nimmt er uns also manches Schöne, aber er schenkt uns
Ersatz. Er kennt das Menu des von den Engeln Christo in der Wüste
servirten Mahls (eines seiner Gemälde); er stellt die Werkzeuge
bei der Geisselung, mittels authenticirter Reliquien fest; beschreibt
den Apostel Paulus, als hätte er ihn selber gesehen1). Er scheint
überall dabeigewesen zu sein. Nur aus Rücksicht auf den lehr-
haften Zweck der Bilder als Volksbücher gestattet er Abwei-
chungen von der Geschichte, z. B. vom Liegen beim Abendmahl,
erlaubt der Erkennbarkeit wegen den Bischöfen der Urzeit Mitren
und Tiaren.

Ein Blick auf die kirchliche Malerei der nächsten Zeit reicht
hin, diese vermeintliche Reform als die todtgeborene Grille eines
Pedanten zu kennzeichnen. Dieser ehrliche Mann hatte keine
Ahnung, dass gerade die Freiheit die innigste, wahrste, noch
heute in unverwelkter Frische lebendige Metamorphose des
spanischen Cultusbildes bringen werde. Er hielt die Sache der
religiösen Malerei bei den Jungspaniern für verloren. "Wieviele
sind auch nur im Stande diese meine Zeugnisse (documentos) zu
verstehen. O Jammer ohne Hoffnung der Besserung!" --

Wie hätte das heil. Uffiz einem Vertrauenswürdigeren als er
das Amt des Malervogts (alcalde veedor del oficio de pintores)
übertragen können! Es geschah im Jahre 1616 im Kapitelsaal,
sein College war Juan de Uceda. Sie hatten die Gemälde

1) Paulus war klein, etwas krumm, kahl, von gewinnender Miene, breite
Judennase, langer graulicher Bart; bei der Hinrichtung war sein Kopf von einem
durchsichtigen Schleier umwunden; als Binde der Augen diente die toca, die ihm
Plautilla verehrte.

Die Kunst der Malerei.
sieht man mehr Geschicklichkeit (valentia) als kirchlichen Takt.
Jene von Roelas, später von Rubens und Murillo so liebenswürdig
behandelte Gruppe der h. Anna als Elementarlehrerin ihres
Kindes, ist heterodox, „weil Maria von ihrer Empfängniss an
Vernunft, Willensfreiheit, Contemplation, eingegossene natürliche
und übernatürliche Wissenschaft besessen hat“. „Zu tilgen aus
dem Gedächtniss“ ist das Bild der heiligen Sippe. Das Mittel-
alter mit seinen Anachronismen kommt übel weg. Das liebliche
Motiv des Kinderpaares Jesus und Johannes ist eine Ausgeburt
der Einfalt und Unwissenheit (II, 276). Er preist Dürer, der die
heiligsten Füsse der Maria nie gezeigt habe. „Dank sei der
heiligen Inquisition, welche diese Freiheit zu korrigiren ge-
bietet.“

Hier nimmt er uns also manches Schöne, aber er schenkt uns
Ersatz. Er kennt das Menu des von den Engeln Christo in der Wüste
servirten Mahls (eines seiner Gemälde); er stellt die Werkzeuge
bei der Geisselung, mittels authenticirter Reliquien fest; beschreibt
den Apostel Paulus, als hätte er ihn selber gesehen1). Er scheint
überall dabeigewesen zu sein. Nur aus Rücksicht auf den lehr-
haften Zweck der Bilder als Volksbücher gestattet er Abwei-
chungen von der Geschichte, z. B. vom Liegen beim Abendmahl,
erlaubt der Erkennbarkeit wegen den Bischöfen der Urzeit Mitren
und Tiaren.

Ein Blick auf die kirchliche Malerei der nächsten Zeit reicht
hin, diese vermeintliche Reform als die todtgeborene Grille eines
Pedanten zu kennzeichnen. Dieser ehrliche Mann hatte keine
Ahnung, dass gerade die Freiheit die innigste, wahrste, noch
heute in unverwelkter Frische lebendige Metamorphose des
spanischen Cultusbildes bringen werde. Er hielt die Sache der
religiösen Malerei bei den Jungspaniern für verloren. „Wieviele
sind auch nur im Stande diese meine Zeugnisse (documentos) zu
verstehen. O Jammer ohne Hoffnung der Besserung!“ —

Wie hätte das heil. Uffiz einem Vertrauenswürdigeren als er
das Amt des Malervogts (alcalde veedor del oficio de pintores)
übertragen können! Es geschah im Jahre 1616 im Kapitelsaal,
sein College war Juan de Uceda. Sie hatten die Gemälde

1) Paulus war klein, etwas krumm, kahl, von gewinnender Miene, breite
Judennase, langer graulicher Bart; bei der Hinrichtung war sein Kopf von einem
durchsichtigen Schleier umwunden; als Binde der Augen diente die toca, die ihm
Plautilla verehrte.
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[71/0091] Die Kunst der Malerei. sieht man mehr Geschicklichkeit (valentia) als kirchlichen Takt. Jene von Roelas, später von Rubens und Murillo so liebenswürdig behandelte Gruppe der h. Anna als Elementarlehrerin ihres Kindes, ist heterodox, „weil Maria von ihrer Empfängniss an Vernunft, Willensfreiheit, Contemplation, eingegossene natürliche und übernatürliche Wissenschaft besessen hat“. „Zu tilgen aus dem Gedächtniss“ ist das Bild der heiligen Sippe. Das Mittel- alter mit seinen Anachronismen kommt übel weg. Das liebliche Motiv des Kinderpaares Jesus und Johannes ist eine Ausgeburt der Einfalt und Unwissenheit (II, 276). Er preist Dürer, der die heiligsten Füsse der Maria nie gezeigt habe. „Dank sei der heiligen Inquisition, welche diese Freiheit zu korrigiren ge- bietet.“ Hier nimmt er uns also manches Schöne, aber er schenkt uns Ersatz. Er kennt das Menu des von den Engeln Christo in der Wüste servirten Mahls (eines seiner Gemälde); er stellt die Werkzeuge bei der Geisselung, mittels authenticirter Reliquien fest; beschreibt den Apostel Paulus, als hätte er ihn selber gesehen 1). Er scheint überall dabeigewesen zu sein. Nur aus Rücksicht auf den lehr- haften Zweck der Bilder als Volksbücher gestattet er Abwei- chungen von der Geschichte, z. B. vom Liegen beim Abendmahl, erlaubt der Erkennbarkeit wegen den Bischöfen der Urzeit Mitren und Tiaren. Ein Blick auf die kirchliche Malerei der nächsten Zeit reicht hin, diese vermeintliche Reform als die todtgeborene Grille eines Pedanten zu kennzeichnen. Dieser ehrliche Mann hatte keine Ahnung, dass gerade die Freiheit die innigste, wahrste, noch heute in unverwelkter Frische lebendige Metamorphose des spanischen Cultusbildes bringen werde. Er hielt die Sache der religiösen Malerei bei den Jungspaniern für verloren. „Wieviele sind auch nur im Stande diese meine Zeugnisse (documentos) zu verstehen. O Jammer ohne Hoffnung der Besserung!“ — Wie hätte das heil. Uffiz einem Vertrauenswürdigeren als er das Amt des Malervogts (alcalde veedor del oficio de pintores) übertragen können! Es geschah im Jahre 1616 im Kapitelsaal, sein College war Juan de Uceda. Sie hatten die Gemälde 1) Paulus war klein, etwas krumm, kahl, von gewinnender Miene, breite Judennase, langer graulicher Bart; bei der Hinrichtung war sein Kopf von einem durchsichtigen Schleier umwunden; als Binde der Augen diente die toca, die ihm Plautilla verehrte.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/91>, abgerufen am 26.11.2024.