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Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hrsg. v. Christian Wilhelm von Dohm. Bd. 1. Lemgo, 1777.

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Siebent. K. Von der Dsjuto oder der Lehre der Philosophen etc.
fortzupflanzen. Er hat auf seinen Reisen durch ganz Sina und dieses Reich seine Si Sjo
oder vier Bücher von der Philosophie algemein bekant gemacht; und bis jezt fehlt es ihm
in allen Reichen, wo nur der Charakter seiner Schriften verstanden wird, nicht an vielen
Nachfolgern.

Die Moralphilosophie dieser Lehrer besteht in fünf Artickeln, die Go, Seo oder
oft auch Tsine genant werden. Es sind folgende: Dsin, Gi, Re, Tsi, und Sin.

Dsin bedeutet menschliche Sitten, ein der menschlichen Natur anständiges Leben,
und lehret die Ethick oder Sittenlehre; daher bedeutet Dsin Sja soviel als ein tugend-
hafter Mann.

Gi bezeichnet die Gewalt über sich selbst und die Herrschaft über seine Affekten.
Die aus rechtmäßigen Ursachen sich entleiben, werden dahero auch für tapfer gehalten; eben
so diejenigen, welche sich standhaft foltern und martern lassen, um ihre Freunde, denen sie
einmal die Verschwiegenheit versprochen, nicht zu verrahten. Beide gehören auch unter
diese Regel. Sonst heist Gi auch Recht und Gerechtigkeit pflegen.

Re oder Rei bedeutet eine gehörige Conversation; äußerlicher Umgang und Com-
plimente nach jedes Rang und Stande; auch Höflichkeit und bürgerlicher Umgang.

Tsi ist politische Klugheit, Philosophia practica, daher heist Tsi sja ein pra-
ctischer Philosoph, der den rechten Weg weiset und geht.

Sin handelt vom Gewissen, von der Aufrichtigkeit des Herzens und von der Ge-
rechtigkeit.

Sie nehmen keine Metempsychose an, sondern eine animam Universi, eine
algemeine Kraft dieser ganzen Welt, die eines jeden Menschen absterbende Seele, wie das
Meer alle Gewässer wieder aufnimt, und ohne Unterschied in der Generation der Dinge
wieder von sich giebt. Dieses Wesen (Naturam Universi, Animam Mundi wie
man es nennen wil) vermischen sie mit der Gottheit, und legen ihm offenbar die Attributa
primi Entis
bey. Jm gemeinen Leben, bey Glüks- und Unglüksfällen bedienen sie sich
auch oft des Worts: Ten, Himmel, Natur; danken z. E. für ihre Speisen diesem
Ten u. s. w. Jch habe auch mit einigen Philosophen mich über diese Materie unterredet,
welche wol einen Intellectum oder Ens incorporeum perfectum als Directorem
mundi natum,
aber nicht als Autorem zugaben. Sie behaupteten, dieser sey der herr-
lichste effectus Naturae aus Jn Jo, d. i. ex actione Coeli & passione Terrae,
als den principiis generationis & corruptionis entstanden. Und so nehmen sie auch
noch andre effectus Naturae und Kräfte als Geister an. Sie glauben, daß die Welt

ewig,
Q q

Siebent. K. Von der Dſjuto oder der Lehre der Philoſophen ꝛc.
fortzupflanzen. Er hat auf ſeinen Reiſen durch ganz Sina und dieſes Reich ſeine Si Sjo
oder vier Buͤcher von der Philoſophie algemein bekant gemacht; und bis jezt fehlt es ihm
in allen Reichen, wo nur der Charakter ſeiner Schriften verſtanden wird, nicht an vielen
Nachfolgern.

Die Moralphiloſophie dieſer Lehrer beſteht in fuͤnf Artickeln, die Go, Seo oder
oft auch Tſine genant werden. Es ſind folgende: Dſin, Gi, Re, Tſi, und Sin.

Dſin bedeutet menſchliche Sitten, ein der menſchlichen Natur anſtaͤndiges Leben,
und lehret die Ethick oder Sittenlehre; daher bedeutet Dſin Sja ſoviel als ein tugend-
hafter Mann.

Gi bezeichnet die Gewalt uͤber ſich ſelbſt und die Herrſchaft uͤber ſeine Affekten.
Die aus rechtmaͤßigen Urſachen ſich entleiben, werden dahero auch fuͤr tapfer gehalten; eben
ſo diejenigen, welche ſich ſtandhaft foltern und martern laſſen, um ihre Freunde, denen ſie
einmal die Verſchwiegenheit verſprochen, nicht zu verrahten. Beide gehoͤren auch unter
dieſe Regel. Sonſt heiſt Gi auch Recht und Gerechtigkeit pflegen.

Re oder Rei bedeutet eine gehoͤrige Converſation; aͤußerlicher Umgang und Com-
plimente nach jedes Rang und Stande; auch Hoͤflichkeit und buͤrgerlicher Umgang.

Tſi iſt politiſche Klugheit, Philoſophia practica, daher heiſt Tſi ſja ein pra-
ctiſcher Philoſoph, der den rechten Weg weiſet und geht.

Sin handelt vom Gewiſſen, von der Aufrichtigkeit des Herzens und von der Ge-
rechtigkeit.

Sie nehmen keine Metempſychoſe an, ſondern eine animam Univerſi, eine
algemeine Kraft dieſer ganzen Welt, die eines jeden Menſchen abſterbende Seele, wie das
Meer alle Gewaͤſſer wieder aufnimt, und ohne Unterſchied in der Generation der Dinge
wieder von ſich giebt. Dieſes Weſen (Naturam Univerſi, Animam Mundi wie
man es nennen wil) vermiſchen ſie mit der Gottheit, und legen ihm offenbar die Attributa
primi Entis
bey. Jm gemeinen Leben, bey Gluͤks- und Ungluͤksfaͤllen bedienen ſie ſich
auch oft des Worts: Ten, Himmel, Natur; danken z. E. fuͤr ihre Speiſen dieſem
Ten u. ſ. w. Jch habe auch mit einigen Philoſophen mich uͤber dieſe Materie unterredet,
welche wol einen Intellectum oder Ens incorporeum perfectum als Directorem
mundi natum,
aber nicht als Autorem zugaben. Sie behaupteten, dieſer ſey der herr-
lichſte effectus Naturae aus Jn Jo, d. i. ex actione Coeli & paſſione Terrae,
als den principiis generationis & corruptionis entſtanden. Und ſo nehmen ſie auch
noch andre effectus Naturae und Kraͤfte als Geiſter an. Sie glauben, daß die Welt

ewig,
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[305/0413] Siebent. K. Von der Dſjuto oder der Lehre der Philoſophen ꝛc. fortzupflanzen. Er hat auf ſeinen Reiſen durch ganz Sina und dieſes Reich ſeine Si Sjo oder vier Buͤcher von der Philoſophie algemein bekant gemacht; und bis jezt fehlt es ihm in allen Reichen, wo nur der Charakter ſeiner Schriften verſtanden wird, nicht an vielen Nachfolgern. Die Moralphiloſophie dieſer Lehrer beſteht in fuͤnf Artickeln, die Go, Seo oder oft auch Tſine genant werden. Es ſind folgende: Dſin, Gi, Re, Tſi, und Sin. Dſin bedeutet menſchliche Sitten, ein der menſchlichen Natur anſtaͤndiges Leben, und lehret die Ethick oder Sittenlehre; daher bedeutet Dſin Sja ſoviel als ein tugend- hafter Mann. Gi bezeichnet die Gewalt uͤber ſich ſelbſt und die Herrſchaft uͤber ſeine Affekten. Die aus rechtmaͤßigen Urſachen ſich entleiben, werden dahero auch fuͤr tapfer gehalten; eben ſo diejenigen, welche ſich ſtandhaft foltern und martern laſſen, um ihre Freunde, denen ſie einmal die Verſchwiegenheit verſprochen, nicht zu verrahten. Beide gehoͤren auch unter dieſe Regel. Sonſt heiſt Gi auch Recht und Gerechtigkeit pflegen. Re oder Rei bedeutet eine gehoͤrige Converſation; aͤußerlicher Umgang und Com- plimente nach jedes Rang und Stande; auch Hoͤflichkeit und buͤrgerlicher Umgang. Tſi iſt politiſche Klugheit, Philoſophia practica, daher heiſt Tſi ſja ein pra- ctiſcher Philoſoph, der den rechten Weg weiſet und geht. Sin handelt vom Gewiſſen, von der Aufrichtigkeit des Herzens und von der Ge- rechtigkeit. Sie nehmen keine Metempſychoſe an, ſondern eine animam Univerſi, eine algemeine Kraft dieſer ganzen Welt, die eines jeden Menſchen abſterbende Seele, wie das Meer alle Gewaͤſſer wieder aufnimt, und ohne Unterſchied in der Generation der Dinge wieder von ſich giebt. Dieſes Weſen (Naturam Univerſi, Animam Mundi wie man es nennen wil) vermiſchen ſie mit der Gottheit, und legen ihm offenbar die Attributa primi Entis bey. Jm gemeinen Leben, bey Gluͤks- und Ungluͤksfaͤllen bedienen ſie ſich auch oft des Worts: Ten, Himmel, Natur; danken z. E. fuͤr ihre Speiſen dieſem Ten u. ſ. w. Jch habe auch mit einigen Philoſophen mich uͤber dieſe Materie unterredet, welche wol einen Intellectum oder Ens incorporeum perfectum als Directorem mundi natum, aber nicht als Autorem zugaben. Sie behaupteten, dieſer ſey der herr- lichſte effectus Naturae aus Jn Jo, d. i. ex actione Coeli & paſſione Terrae, als den principiis generationis & corruptionis entſtanden. Und ſo nehmen ſie auch noch andre effectus Naturae und Kraͤfte als Geiſter an. Sie glauben, daß die Welt ewig, Q q

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Zitationshilfe: Kaempfer, Engelbert: Geschichte und Beschreibung von Japan. Hrsg. v. Christian Wilhelm von Dohm. Bd. 1. Lemgo, 1777, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kaempfer_japan01_1777/413>, abgerufen am 25.11.2024.