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Kafka, Franz: Der Prozess (Hg. Max Brod). Berlin, 1925.

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zu sehen geglaubt." "Meine Lippen?" fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. "Ich kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie?" "Ich auch nicht," sagte der Kaufmann, "ganz und gar nicht." "Wie abergläubisch diese Leute sind," rief K. aus. "Sagte ich es nicht?" fragte der Kaufmann. "Verkehren sie denn so viel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?" sagte K. "Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten." "Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander," sagte der Kaufmann, "das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im Geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die andern; keiner weiß, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber

zu sehen geglaubt.“ „Meine Lippen?“ fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. „Ich kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie?“ „Ich auch nicht,“ sagte der Kaufmann, „ganz und gar nicht.“ „Wie abergläubisch diese Leute sind,“ rief K. aus. „Sagte ich es nicht?“ fragte der Kaufmann. „Verkehren sie denn so viel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?“ sagte K. „Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.“ „Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander,“ sagte der Kaufmann, „das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im Geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die andern; keiner weiß, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber

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[306/0308] zu sehen geglaubt.“ „Meine Lippen?“ fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. „Ich kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie?“ „Ich auch nicht,“ sagte der Kaufmann, „ganz und gar nicht.“ „Wie abergläubisch diese Leute sind,“ rief K. aus. „Sagte ich es nicht?“ fragte der Kaufmann. „Verkehren sie denn so viel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?“ sagte K. „Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.“ „Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander,“ sagte der Kaufmann, „das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im Geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die andern; keiner weiß, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber

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Zitationshilfe: Kafka, Franz: Der Prozess (Hg. Max Brod). Berlin, 1925, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_prozess_1925/308>, abgerufen am 23.11.2024.