Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kafka, Franz: Der Prozess (Hg. Max Brod). Berlin, 1925.

Bild:
<< vorherige Seite

Geistliche streckte ihm schon von einer obern Stufe im Hinuntergehn die Hand entgegen. "Hast du ein wenig Zeit für mich?" fragte K. "Soviel Zeit als du brauchst," sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. "Du bist sehr freundlich zu mir," sagte K. Sie gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. "Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgendjemandem von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden." "Täusche dich nicht," sagte der Geistliche. "Worin sollte ich mich denn täuschen?" fragte K. "In dem Gericht täuschst du dich," sagte der Geistliche, "in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es ist möglich", sagt der Türhüter, "jetzt

Geistliche streckte ihm schon von einer obern Stufe im Hinuntergehn die Hand entgegen. „Hast du ein wenig Zeit für mich?“ fragte K. „Soviel Zeit als du brauchst,“ sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. „Du bist sehr freundlich zu mir,“ sagte K. Sie gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. „Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgendjemandem von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden.“ „Täusche dich nicht,“ sagte der Geistliche. „Worin sollte ich mich denn täuschen?“ fragte K. „In dem Gericht täuschst du dich,“ sagte der Geistliche, „in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0377" n="375"/>
Geistliche streckte ihm schon von einer obern Stufe im Hinuntergehn die Hand entgegen. &#x201E;Hast du ein wenig Zeit für mich?&#x201C; fragte K. &#x201E;Soviel Zeit als du brauchst,&#x201C; sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. &#x201E;Du bist sehr freundlich zu mir,&#x201C; sagte K. Sie gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. &#x201E;Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgendjemandem von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden.&#x201C; &#x201E;Täusche dich nicht,&#x201C; sagte der Geistliche. &#x201E;Worin sollte ich mich denn täuschen?&#x201C; fragte K. &#x201E;In dem Gericht täuschst du dich,&#x201C; sagte der Geistliche, &#x201E;in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. &#x201E;Es ist möglich&#x201C;, sagt der Türhüter, &#x201E;jetzt
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[375/0377] Geistliche streckte ihm schon von einer obern Stufe im Hinuntergehn die Hand entgegen. „Hast du ein wenig Zeit für mich?“ fragte K. „Soviel Zeit als du brauchst,“ sagte der Geistliche und reichte K. die kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. „Du bist sehr freundlich zu mir,“ sagte K. Sie gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. „Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu dir als zu irgendjemandem von ihnen, so viele ich schon kenne. Mit dir kann ich offen reden.“ „Täusche dich nicht,“ sagte der Geistliche. „Worin sollte ich mich denn täuschen?“ fragte K. „In dem Gericht täuschst du dich,“ sagte der Geistliche, „in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-28T19:24:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-28T19:24:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat (2012-11-28T19:24:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Trennungen am Zeilen- und am Seitenende werden aufgelöst, der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_prozess_1925
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_prozess_1925/377
Zitationshilfe: Kafka, Franz: Der Prozess (Hg. Max Brod). Berlin, 1925, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_prozess_1925/377>, abgerufen am 24.11.2024.