Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. I. B. III. Hauptst. Von den Triebfedern
Achtung, die uns unsere eigene Unwürdigkeit so strenge
vorhält, los werden möge? Gleichwol ist darin doch
auch wiederum so wenig Unlust: daß wenn man ein-
mal den Eigendünkel abgelegt, und jener Achtung practi-
schen Einfluß verstattet hat, man sich wiederum an der
Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen kann, und
die Seele sich in dem Maaße selbst zu erheben glaubt,
als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche
Ratur erhaben sieht. Zwar können große Talente und
eine ihnen proportionirte Thätigkeit auch Achtung, oder
ein mit derselben analogisches Gefühl, bewirken, es
ist auch ganz anständig es ihnen zu widmen, und da
scheint es, als ob Bewunderung mit jener Empfindung
einerley sey. Allein, wenn man näher zusieht, so
wird man bemerken, daß, da es immer ungewiß bleibt,
wie viel das angebohrne Talent und wie viel Cultur
durch eigenen Fleiß an der Geschicklichkeit Theil habe,
so stellt uns die Vernunft die letztere muthmaßlich als
Frucht der Cultur, mithin als Verdienst vor, welches
unseren Eigendünkel merklich herabstimmt, und uns
darüber entweder Vorwürfe macht, oder uns die Be-
folgung eines solchen Beyspiels, in der Art, wie es
uns angemessen ist, auferlegt. Sie ist also nicht bloße
Bewunderung, diese Achtung, die wir einer solchen
Person (eigentlich dem Gesetze, was uns sein Bey-
spiel vorhält,) beweisen; welches sich auch dadurch be-
stätigt, daß der gemeine Haufe der Liebhaber, wenn

er

I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern
Achtung, die uns unſere eigene Unwuͤrdigkeit ſo ſtrenge
vorhaͤlt, los werden moͤge? Gleichwol iſt darin doch
auch wiederum ſo wenig Unluſt: daß wenn man ein-
mal den Eigenduͤnkel abgelegt, und jener Achtung practi-
ſchen Einfluß verſtattet hat, man ſich wiederum an der
Herrlichkeit dieſes Geſetzes nicht ſatt ſehen kann, und
die Seele ſich in dem Maaße ſelbſt zu erheben glaubt,
als ſie das heilige Geſetz uͤber ſich und ihre gebrechliche
Ratur erhaben ſieht. Zwar koͤnnen große Talente und
eine ihnen proportionirte Thaͤtigkeit auch Achtung, oder
ein mit derſelben analogiſches Gefuͤhl, bewirken, es
iſt auch ganz anſtaͤndig es ihnen zu widmen, und da
ſcheint es, als ob Bewunderung mit jener Empfindung
einerley ſey. Allein, wenn man naͤher zuſieht, ſo
wird man bemerken, daß, da es immer ungewiß bleibt,
wie viel das angebohrne Talent und wie viel Cultur
durch eigenen Fleiß an der Geſchicklichkeit Theil habe,
ſo ſtellt uns die Vernunft die letztere muthmaßlich als
Frucht der Cultur, mithin als Verdienſt vor, welches
unſeren Eigenduͤnkel merklich herabſtimmt, und uns
daruͤber entweder Vorwuͤrfe macht, oder uns die Be-
folgung eines ſolchen Beyſpiels, in der Art, wie es
uns angemeſſen iſt, auferlegt. Sie iſt alſo nicht bloße
Bewunderung, dieſe Achtung, die wir einer ſolchen
Perſon (eigentlich dem Geſetze, was uns ſein Bey-
ſpiel vorhaͤlt,) beweiſen; welches ſich auch dadurch be-
ſtaͤtigt, daß der gemeine Haufe der Liebhaber, wenn

er
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0146" n="138"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> B. <hi rendition="#aq">III.</hi> Haupt&#x017F;t. Von den Triebfedern</fw><lb/>
Achtung, die uns un&#x017F;ere eigene Unwu&#x0364;rdigkeit &#x017F;o &#x017F;trenge<lb/>
vorha&#x0364;lt, los werden mo&#x0364;ge? Gleichwol i&#x017F;t darin doch<lb/>
auch wiederum &#x017F;o <hi rendition="#fr">wenig Unlu&#x017F;t:</hi> daß wenn man ein-<lb/>
mal den Eigendu&#x0364;nkel abgelegt, und jener Achtung practi-<lb/>
&#x017F;chen Einfluß ver&#x017F;tattet hat, man &#x017F;ich wiederum an der<lb/>
Herrlichkeit die&#x017F;es Ge&#x017F;etzes nicht &#x017F;att &#x017F;ehen kann, und<lb/>
die Seele &#x017F;ich in dem Maaße &#x017F;elb&#x017F;t zu erheben glaubt,<lb/>
als &#x017F;ie das heilige Ge&#x017F;etz u&#x0364;ber &#x017F;ich und ihre gebrechliche<lb/>
Ratur erhaben &#x017F;ieht. Zwar ko&#x0364;nnen große Talente und<lb/>
eine ihnen proportionirte Tha&#x0364;tigkeit auch Achtung, oder<lb/>
ein mit der&#x017F;elben analogi&#x017F;ches Gefu&#x0364;hl, bewirken, es<lb/>
i&#x017F;t auch ganz an&#x017F;ta&#x0364;ndig es ihnen zu widmen, und da<lb/>
&#x017F;cheint es, als ob Bewunderung mit jener Empfindung<lb/>
einerley &#x017F;ey. Allein, wenn man na&#x0364;her zu&#x017F;ieht, &#x017F;o<lb/>
wird man bemerken, daß, da es immer ungewiß bleibt,<lb/>
wie viel das angebohrne Talent und wie viel Cultur<lb/>
durch eigenen Fleiß an der Ge&#x017F;chicklichkeit Theil habe,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;tellt uns die Vernunft die letztere muthmaßlich als<lb/>
Frucht der Cultur, mithin als Verdien&#x017F;t vor, welches<lb/>
un&#x017F;eren Eigendu&#x0364;nkel merklich herab&#x017F;timmt, und uns<lb/>
daru&#x0364;ber entweder Vorwu&#x0364;rfe macht, oder uns die Be-<lb/>
folgung eines &#x017F;olchen Bey&#x017F;piels, in der Art, wie es<lb/>
uns angeme&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, auferlegt. Sie i&#x017F;t al&#x017F;o nicht bloße<lb/>
Bewunderung, die&#x017F;e Achtung, die wir einer &#x017F;olchen<lb/>
Per&#x017F;on (eigentlich dem Ge&#x017F;etze, was uns &#x017F;ein Bey-<lb/>
&#x017F;piel vorha&#x0364;lt,) bewei&#x017F;en; welches &#x017F;ich auch dadurch be-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;tigt, daß der gemeine Haufe der Liebhaber, wenn<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">er</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0146] I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern Achtung, die uns unſere eigene Unwuͤrdigkeit ſo ſtrenge vorhaͤlt, los werden moͤge? Gleichwol iſt darin doch auch wiederum ſo wenig Unluſt: daß wenn man ein- mal den Eigenduͤnkel abgelegt, und jener Achtung practi- ſchen Einfluß verſtattet hat, man ſich wiederum an der Herrlichkeit dieſes Geſetzes nicht ſatt ſehen kann, und die Seele ſich in dem Maaße ſelbſt zu erheben glaubt, als ſie das heilige Geſetz uͤber ſich und ihre gebrechliche Ratur erhaben ſieht. Zwar koͤnnen große Talente und eine ihnen proportionirte Thaͤtigkeit auch Achtung, oder ein mit derſelben analogiſches Gefuͤhl, bewirken, es iſt auch ganz anſtaͤndig es ihnen zu widmen, und da ſcheint es, als ob Bewunderung mit jener Empfindung einerley ſey. Allein, wenn man naͤher zuſieht, ſo wird man bemerken, daß, da es immer ungewiß bleibt, wie viel das angebohrne Talent und wie viel Cultur durch eigenen Fleiß an der Geſchicklichkeit Theil habe, ſo ſtellt uns die Vernunft die letztere muthmaßlich als Frucht der Cultur, mithin als Verdienſt vor, welches unſeren Eigenduͤnkel merklich herabſtimmt, und uns daruͤber entweder Vorwuͤrfe macht, oder uns die Be- folgung eines ſolchen Beyſpiels, in der Art, wie es uns angemeſſen iſt, auferlegt. Sie iſt alſo nicht bloße Bewunderung, dieſe Achtung, die wir einer ſolchen Perſon (eigentlich dem Geſetze, was uns ſein Bey- ſpiel vorhaͤlt,) beweiſen; welches ſich auch dadurch be- ſtaͤtigt, daß der gemeine Haufe der Liebhaber, wenn er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/146
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/146>, abgerufen am 21.11.2024.