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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Elementarl. II. Th. I. Abth. II. Buch.
Richter, oder ein Staatskundiger kan viel schöne patholo-
gische, iuristische oder politische Regeln im Kopfe haben,
in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer
werden kan, und wird dennoch in der Anwendung der-
selben leicht verstossen, entweder, weil es ihm an natürli-
cher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verstande) man-
gelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen,
ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterschei-
den kan, oder auch darum, weil er nicht genug durch
Beyspiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urtheile ab-
gerichtet worden. Dieses ist auch der einige und grosse
Nutzen der Beyspiele: daß sie die Urtheilskraft schärfen.
Denn was die Richtigkeit und Präcision der Verstandes-
einsicht betrift, so thun sie derselben vielmehr gemeiniglich
einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der
Regel adäquat erfüllen, (als casus in terminis) und über-
dem dieienige Anstrengung des Verstandes oftmals schwä-
chen, Regeln im Allgemeinen, und unabhängig von den
besonderen Umständen der Erfahrung, nach ihrer Zuläng-
lichkeit, einzusehen, und sie daher zulezt mehr wie For-
meln, als Grundsätze zu gebrauchen angewöhnen. So
sind Beyspiele der Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen
derienige, dem es am natürlichen Talent desselben man-
gelt, niemals entbehren kan.



Ob
nem (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts
ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die,
im Gebrauche ihrer Wissenschaft, ienen nie zu bessernden
Mangel häufig blicken lassen.

Elementarl. II. Th. I. Abth. II. Buch.
Richter, oder ein Staatskundiger kan viel ſchoͤne patholo-
giſche, iuriſtiſche oder politiſche Regeln im Kopfe haben,
in dem Grade, daß er ſelbſt darin ein gruͤndlicher Lehrer
werden kan, und wird dennoch in der Anwendung der-
ſelben leicht verſtoſſen, entweder, weil es ihm an natuͤrli-
cher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verſtande) man-
gelt, und er zwar das Allgemeine in abſtracto einſehen,
ob ein Fall in concreto darunter gehoͤre, nicht unterſchei-
den kan, oder auch darum, weil er nicht genug durch
Beyſpiele und wirkliche Geſchaͤfte zu dieſem Urtheile ab-
gerichtet worden. Dieſes iſt auch der einige und groſſe
Nutzen der Beyſpiele: daß ſie die Urtheilskraft ſchaͤrfen.
Denn was die Richtigkeit und Praͤciſion der Verſtandes-
einſicht betrift, ſo thun ſie derſelben vielmehr gemeiniglich
einigen Abbruch, weil ſie nur ſelten die Bedingung der
Regel adaͤquat erfuͤllen, (als caſus in terminis) und uͤber-
dem dieienige Anſtrengung des Verſtandes oftmals ſchwaͤ-
chen, Regeln im Allgemeinen, und unabhaͤngig von den
beſonderen Umſtaͤnden der Erfahrung, nach ihrer Zulaͤng-
lichkeit, einzuſehen, und ſie daher zulezt mehr wie For-
meln, als Grundſaͤtze zu gebrauchen angewoͤhnen. So
ſind Beyſpiele der Gaͤngelwagen der Urtheilskraft, welchen
derienige, dem es am natuͤrlichen Talent deſſelben man-
gelt, niemals entbehren kan.



Ob
nem (der ſecunda Petri) zu fehlen pflegt, ſo iſt es nichts
ungewoͤhnliches, ſehr gelehrte Maͤnner anzutreffen, die,
im Gebrauche ihrer Wiſſenſchaft, ienen nie zu beſſernden
Mangel haͤufig blicken laſſen.
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[134/0164] Elementarl. II. Th. I. Abth. II. Buch. Richter, oder ein Staatskundiger kan viel ſchoͤne patholo- giſche, iuriſtiſche oder politiſche Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er ſelbſt darin ein gruͤndlicher Lehrer werden kan, und wird dennoch in der Anwendung der- ſelben leicht verſtoſſen, entweder, weil es ihm an natuͤrli- cher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verſtande) man- gelt, und er zwar das Allgemeine in abſtracto einſehen, ob ein Fall in concreto darunter gehoͤre, nicht unterſchei- den kan, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beyſpiele und wirkliche Geſchaͤfte zu dieſem Urtheile ab- gerichtet worden. Dieſes iſt auch der einige und groſſe Nutzen der Beyſpiele: daß ſie die Urtheilskraft ſchaͤrfen. Denn was die Richtigkeit und Praͤciſion der Verſtandes- einſicht betrift, ſo thun ſie derſelben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil ſie nur ſelten die Bedingung der Regel adaͤquat erfuͤllen, (als caſus in terminis) und uͤber- dem dieienige Anſtrengung des Verſtandes oftmals ſchwaͤ- chen, Regeln im Allgemeinen, und unabhaͤngig von den beſonderen Umſtaͤnden der Erfahrung, nach ihrer Zulaͤng- lichkeit, einzuſehen, und ſie daher zulezt mehr wie For- meln, als Grundſaͤtze zu gebrauchen angewoͤhnen. So ſind Beyſpiele der Gaͤngelwagen der Urtheilskraft, welchen derienige, dem es am natuͤrlichen Talent deſſelben man- gelt, niemals entbehren kan. Ob *) *) nem (der ſecunda Petri) zu fehlen pflegt, ſo iſt es nichts ungewoͤhnliches, ſehr gelehrte Maͤnner anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wiſſenſchaft, ienen nie zu beſſernden Mangel haͤufig blicken laſſen.

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/164>, abgerufen am 27.11.2024.