Der Satz nun: Keinem Dinge komt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs, und ist ein allgemeines, obzwar blos negatives Criterium al- ler Wahrheit, gehört aber auch darum blos in die Logik, weil er von Erkentnissen, blos als Erkentnissen überhaupt, unangesehen ihres Inhalts gilt, und sagt: daß der Wi- derspruch sie gänzlich vernichte und aufhebe.
Man kan aber doch von demselben auch einen po- sitiven Gebrauch machen, d. i. nicht blos, um Falschheit und Irrthum (so fern er auf dem Widerspruch beruhet) zu verbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn, wenn das Urtheil analytisch ist, es mag nun verneinend oder beiahend seyn, so muß dessen Wahrheit iederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkant werden. Denn von dem, was in der Erkentniß des Ob- iects schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel iederzeit richtig verneinet, der Begriff selber aber nothwendig von ihm beiahet werden müssen, dar- um, weil das Gegentheil desselben dem Obiecte wider- sprechen würde.
Daher müssen wir auch den Satz des Widerspruchs, als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkentniß gelten lassen; aber weiter geht auch sein Ansehen und Brauchbarkeit nicht, als eines hinreichenden Criterium der Wahrheit. Denn daß ihm gar keine Erkentniß zuwider seyn könne, ohne sich selbst zu vernichten, das macht diesen Satz wol zur conditio
sine
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I. Abſch. Vom oberſten Grundſ. analyt. Urtheile.
Der Satz nun: Keinem Dinge komt ein Praͤdicat zu, welches ihm widerſpricht, heißt der Satz des Widerſpruchs, und iſt ein allgemeines, obzwar blos negatives Criterium al- ler Wahrheit, gehoͤrt aber auch darum blos in die Logik, weil er von Erkentniſſen, blos als Erkentniſſen uͤberhaupt, unangeſehen ihres Inhalts gilt, und ſagt: daß der Wi- derſpruch ſie gaͤnzlich vernichte und aufhebe.
Man kan aber doch von demſelben auch einen po- ſitiven Gebrauch machen, d. i. nicht blos, um Falſchheit und Irrthum (ſo fern er auf dem Widerſpruch beruhet) zu verbannen, ſondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn, wenn das Urtheil analytiſch iſt, es mag nun verneinend oder beiahend ſeyn, ſo muß deſſen Wahrheit iederzeit nach dem Satze des Widerſpruchs hinreichend koͤnnen erkant werden. Denn von dem, was in der Erkentniß des Ob- iects ſchon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerſpiel iederzeit richtig verneinet, der Begriff ſelber aber nothwendig von ihm beiahet werden muͤſſen, dar- um, weil das Gegentheil deſſelben dem Obiecte wider- ſprechen wuͤrde.
Daher muͤſſen wir auch den Satz des Widerſpruchs, als das allgemeine und voͤllig hinreichende Principium aller analytiſchen Erkentniß gelten laſſen; aber weiter geht auch ſein Anſehen und Brauchbarkeit nicht, als eines hinreichenden Criterium der Wahrheit. Denn daß ihm gar keine Erkentniß zuwider ſeyn koͤnne, ohne ſich ſelbſt zu vernichten, das macht dieſen Satz wol zur conditio
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I. Abſch. Vom oberſten Grundſ. analyt. Urtheile.
Der Satz nun: Keinem Dinge komt ein Praͤdicat zu,
welches ihm widerſpricht, heißt der Satz des Widerſpruchs,
und iſt ein allgemeines, obzwar blos negatives Criterium al-
ler Wahrheit, gehoͤrt aber auch darum blos in die Logik, weil
er von Erkentniſſen, blos als Erkentniſſen uͤberhaupt,
unangeſehen ihres Inhalts gilt, und ſagt: daß der Wi-
derſpruch ſie gaͤnzlich vernichte und aufhebe.
Man kan aber doch von demſelben auch einen po-
ſitiven Gebrauch machen, d. i. nicht blos, um Falſchheit
und Irrthum (ſo fern er auf dem Widerſpruch beruhet)
zu verbannen, ſondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn,
wenn das Urtheil analytiſch iſt, es mag nun verneinend
oder beiahend ſeyn, ſo muß deſſen Wahrheit iederzeit nach
dem Satze des Widerſpruchs hinreichend koͤnnen erkant
werden. Denn von dem, was in der Erkentniß des Ob-
iects ſchon als Begriff liegt und gedacht wird, wird
das Widerſpiel iederzeit richtig verneinet, der Begriff ſelber
aber nothwendig von ihm beiahet werden muͤſſen, dar-
um, weil das Gegentheil deſſelben dem Obiecte wider-
ſprechen wuͤrde.
Daher muͤſſen wir auch den Satz des Widerſpruchs,
als das allgemeine und voͤllig hinreichende Principium aller
analytiſchen Erkentniß gelten laſſen; aber weiter geht
auch ſein Anſehen und Brauchbarkeit nicht, als eines
hinreichenden Criterium der Wahrheit. Denn daß ihm
gar keine Erkentniß zuwider ſeyn koͤnne, ohne ſich ſelbſt
zu vernichten, das macht dieſen Satz wol zur conditio
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/181>, abgerufen am 23.11.2024.
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