Verfasser, wider den Sinn der Mathematiker, denen er doch eigentlich angehört, gegeben haben, nemlich: daß Postuliren so viel heissen solle, als einen Satz vor unmit- telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge- ben; denn, wenn wir das bey synthetischen Sätzen, so evident sie auch seyn mögen, einräumen sollten, daß man sie ohne Deduction, auf das Ansehen ihres eigenen Aus- spruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften dürfe, so ist alle Critik des Verstandes verloren, und, da es an dreusten Anmassungen nicht fehlt, deren sich auch der ge- meine Glaube, (der aber kein Creditiv ist) nicht weigert; so wird unser Verstand iedem Wahne offen stehen, ohne daß er seinen Beyfall denen Aussprüchen versagen kan, die, obgleich unrechtmäßig, doch in eben demselben To- ne der Zuversicht, als wirkliche Axiomen eingelassen zu werden verlangen. Wenn also zu dem Begriffe eines Dinges eine Bestimmung a priori synthetisch hinzukomt, so muß von einem solchen Satze, wo nicht ein Beweis, doch wenigstens eine Deduction der Rechtmäßigkeit seiner Behauptung unnachlaßlich hinzugefügt werden.
Die Grundsätze der Modalität sind aber nicht ob- iectivsynthetisch, weil die Prädicate der Möglichkeit, Wirk- lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem sie ge- sagt werden, nicht im mindesten vermehren, dadurch daß sie der Vorstellung des Gegenstandes noch etwas hinzusezten. Da sie aber gleichwol doch immer synthetisch seyn, so sind
sie
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III. Abſch. Syſtemat. Vorſtellung aller ꝛc.
Verfaſſer, wider den Sinn der Mathematiker, denen er doch eigentlich angehoͤrt, gegeben haben, nemlich: daß Poſtuliren ſo viel heiſſen ſolle, als einen Satz vor unmit- telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge- ben; denn, wenn wir das bey ſynthetiſchen Saͤtzen, ſo evident ſie auch ſeyn moͤgen, einraͤumen ſollten, daß man ſie ohne Deduction, auf das Anſehen ihres eigenen Aus- ſpruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften duͤrfe, ſo iſt alle Critik des Verſtandes verloren, und, da es an dreuſten Anmaſſungen nicht fehlt, deren ſich auch der ge- meine Glaube, (der aber kein Creditiv iſt) nicht weigert; ſo wird unſer Verſtand iedem Wahne offen ſtehen, ohne daß er ſeinen Beyfall denen Ausſpruͤchen verſagen kan, die, obgleich unrechtmaͤßig, doch in eben demſelben To- ne der Zuverſicht, als wirkliche Axiomen eingelaſſen zu werden verlangen. Wenn alſo zu dem Begriffe eines Dinges eine Beſtimmung a priori ſynthetiſch hinzukomt, ſo muß von einem ſolchen Satze, wo nicht ein Beweis, doch wenigſtens eine Deduction der Rechtmaͤßigkeit ſeiner Behauptung unnachlaßlich hinzugefuͤgt werden.
Die Grundſaͤtze der Modalitaͤt ſind aber nicht ob- iectivſynthetiſch, weil die Praͤdicate der Moͤglichkeit, Wirk- lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem ſie ge- ſagt werden, nicht im mindeſten vermehren, dadurch daß ſie der Vorſtellung des Gegenſtandes noch etwas hinzuſezten. Da ſie aber gleichwol doch immer ſynthetiſch ſeyn, ſo ſind
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III. Abſch. Syſtemat. Vorſtellung aller ꝛc.
Verfaſſer, wider den Sinn der Mathematiker, denen er
doch eigentlich angehoͤrt, gegeben haben, nemlich: daß
Poſtuliren ſo viel heiſſen ſolle, als einen Satz vor unmit-
telbar gewiß, ohne Rechtfertigung, oder Beweis ausge-
ben; denn, wenn wir das bey ſynthetiſchen Saͤtzen, ſo
evident ſie auch ſeyn moͤgen, einraͤumen ſollten, daß man
ſie ohne Deduction, auf das Anſehen ihres eigenen Aus-
ſpruchs, dem unbedingten Beyfalle aufheften duͤrfe, ſo
iſt alle Critik des Verſtandes verloren, und, da es an
dreuſten Anmaſſungen nicht fehlt, deren ſich auch der ge-
meine Glaube, (der aber kein Creditiv iſt) nicht weigert;
ſo wird unſer Verſtand iedem Wahne offen ſtehen, ohne
daß er ſeinen Beyfall denen Ausſpruͤchen verſagen kan,
die, obgleich unrechtmaͤßig, doch in eben demſelben To-
ne der Zuverſicht, als wirkliche Axiomen eingelaſſen zu
werden verlangen. Wenn alſo zu dem Begriffe eines
Dinges eine Beſtimmung a priori ſynthetiſch hinzukomt,
ſo muß von einem ſolchen Satze, wo nicht ein Beweis,
doch wenigſtens eine Deduction der Rechtmaͤßigkeit ſeiner
Behauptung unnachlaßlich hinzugefuͤgt werden.
Die Grundſaͤtze der Modalitaͤt ſind aber nicht ob-
iectivſynthetiſch, weil die Praͤdicate der Moͤglichkeit, Wirk-
lichkeit und Nothwendigkeit den Begriff, von dem ſie ge-
ſagt werden, nicht im mindeſten vermehren, dadurch daß
ſie der Vorſtellung des Gegenſtandes noch etwas hinzuſezten.
Da ſie aber gleichwol doch immer ſynthetiſch ſeyn, ſo ſind
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/263>, abgerufen am 22.11.2024.
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