Der Transscendentalen Logik Zweite Abtheilung. Die Transscendentale Dyalectik.
Einleitung. I. Vom transscendentalen Schein.
Wir haben oben die Dialectik überhaupt eine Logik des Scheins genant. Das bedeutet nicht, sie sey eine Lehre der Wahrscheinlichkeit; denn diese ist Wahr- heit, aber durch unzureichende Gründe erkant, deren Er- kentniß also zwar mangelhaft, aber darum doch nicht trüglich ist, und mithin von dem analytischen Theile der Logik nicht getrent werden muß. Noch weniger dürfen Erscheinung und Schein vor einerley gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urtheile über den- selben, so fern er gedacht wird. Man kan also zwar richtig sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie iederzeit richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht ur- theilen. Daher sind Wahrheit so wol als Irrthum, mit- hin auch der Schein, als die Verleitung zum lezteren, nur im Urtheile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstan- des zu unserm Verstande anzutreffen. In einem Erkent- niß, das mit den Verstandesgesetzen durchgängig zusam-
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Einleitung.
Der Transſcendentalen Logik Zweite Abtheilung. Die Transſcendentale Dyalectik.
Einleitung. I. Vom transſcendentalen Schein.
Wir haben oben die Dialectik uͤberhaupt eine Logik des Scheins genant. Das bedeutet nicht, ſie ſey eine Lehre der Wahrſcheinlichkeit; denn dieſe iſt Wahr- heit, aber durch unzureichende Gruͤnde erkant, deren Er- kentniß alſo zwar mangelhaft, aber darum doch nicht truͤglich iſt, und mithin von dem analytiſchen Theile der Logik nicht getrent werden muß. Noch weniger duͤrfen Erſcheinung und Schein vor einerley gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein ſind nicht im Gegenſtande, ſo fern er angeſchaut wird, ſondern im Urtheile uͤber den- ſelben, ſo fern er gedacht wird. Man kan alſo zwar richtig ſagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil ſie iederzeit richtig urtheilen, ſondern weil ſie gar nicht ur- theilen. Daher ſind Wahrheit ſo wol als Irrthum, mit- hin auch der Schein, als die Verleitung zum lezteren, nur im Urtheile, d. i. nur in dem Verhaͤltniſſe des Gegenſtan- des zu unſerm Verſtande anzutreffen. In einem Erkent- niß, das mit den Verſtandesgeſetzen durchgaͤngig zuſam-
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Einleitung.
Der
Transſcendentalen Logik
Zweite Abtheilung.
Die
Transſcendentale Dyalectik.
Einleitung.
I.
Vom transſcendentalen Schein.
Wir haben oben die Dialectik uͤberhaupt eine Logik des
Scheins genant. Das bedeutet nicht, ſie ſey
eine Lehre der Wahrſcheinlichkeit; denn dieſe iſt Wahr-
heit, aber durch unzureichende Gruͤnde erkant, deren Er-
kentniß alſo zwar mangelhaft, aber darum doch nicht
truͤglich iſt, und mithin von dem analytiſchen Theile der
Logik nicht getrent werden muß. Noch weniger duͤrfen
Erſcheinung und Schein vor einerley gehalten werden.
Denn Wahrheit oder Schein ſind nicht im Gegenſtande,
ſo fern er angeſchaut wird, ſondern im Urtheile uͤber den-
ſelben, ſo fern er gedacht wird. Man kan alſo zwar richtig
ſagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil
ſie iederzeit richtig urtheilen, ſondern weil ſie gar nicht ur-
theilen. Daher ſind Wahrheit ſo wol als Irrthum, mit-
hin auch der Schein, als die Verleitung zum lezteren, nur
im Urtheile, d. i. nur in dem Verhaͤltniſſe des Gegenſtan-
des zu unſerm Verſtande anzutreffen. In einem Erkent-
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/323>, abgerufen am 22.11.2024.
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