Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst.
nichts gewinnen kan, wenn ihm gleich gar nicht wider- standen würde, dieses Verfahren, sage ich, kan man die sceptische Methode nennen. Sie ist vom Scepticismus gänzlich unterschieden, einem Grundsatze einer kunstmässi- gen und scientifischen Unwissenheit, welcher die Grundla- gen aller Erkentniß untergräbt, um, wo möglich, über- all keine Zuverlässigkeit und Sicherheit derselben übrig zu lassen. Denn die sceptische Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß sie in einem solchen, auf beiden Seiten red- lichgemeinten und mit Verstande geführten Streite, den Punct des Mißverständnisses zu entdecken sucht, um, wie weise Gesetzgeber thun, aus der Verlegenheit der Richter bey Rechtshändeln vor sich selbst Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau Bestimten in ihren Gesetzen, zu ziehen. Die Antinomie, die sich in der Anwendung der Gesetze offenbaret, ist bey unserer eingeschränkten Weis- heit der beste Prüfungsversuch der Nomothetik, um der Vernunft, die in abstracter Speculation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in Bestimmung ihrer Grundsätze aufmerksam zu machen.
Diese sceptische Methode ist aber nur der Transscen- dentalphilosophie allein wesentlich eigen, und kan allenfals in iedem anderen Felde der Untersuchungen, nur in diesem nicht, entbehrt werden. In der Mathematik würde ihr Gebrauch ungereimt seyn; weil sich in ihr keine falsche Behauptungen verbergen und unsichtbar machen können,
indem
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
nichts gewinnen kan, wenn ihm gleich gar nicht wider- ſtanden wuͤrde, dieſes Verfahren, ſage ich, kan man die ſceptiſche Methode nennen. Sie iſt vom Scepticismus gaͤnzlich unterſchieden, einem Grundſatze einer kunſtmaͤſſi- gen und ſcientifiſchen Unwiſſenheit, welcher die Grundla- gen aller Erkentniß untergraͤbt, um, wo moͤglich, uͤber- all keine Zuverlaͤſſigkeit und Sicherheit derſelben uͤbrig zu laſſen. Denn die ſceptiſche Methode geht auf Gewißheit, dadurch, daß ſie in einem ſolchen, auf beiden Seiten red- lichgemeinten und mit Verſtande gefuͤhrten Streite, den Punct des Mißverſtaͤndniſſes zu entdecken ſucht, um, wie weiſe Geſetzgeber thun, aus der Verlegenheit der Richter bey Rechtshaͤndeln vor ſich ſelbſt Belehrung, von dem Mangelhaften und nicht genau Beſtimten in ihren Geſetzen, zu ziehen. Die Antinomie, die ſich in der Anwendung der Geſetze offenbaret, iſt bey unſerer eingeſchraͤnkten Weis- heit der beſte Pruͤfungsverſuch der Nomothetik, um der Vernunft, die in abſtracter Speculation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in Beſtimmung ihrer Grundſaͤtze aufmerkſam zu machen.
Dieſe ſceptiſche Methode iſt aber nur der Transſcen- dentalphiloſophie allein weſentlich eigen, und kan allenfals in iedem anderen Felde der Unterſuchungen, nur in dieſem nicht, entbehrt werden. In der Mathematik wuͤrde ihr Gebrauch ungereimt ſeyn; weil ſich in ihr keine falſche Behauptungen verbergen und unſichtbar machen koͤnnen,
indem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><divn="8"><p><pbfacs="#f0454"n="424"/><fwplace="top"type="header">Elementarl. <hirendition="#aq">II.</hi> Th. <hirendition="#aq">II.</hi> Abth. <hirendition="#aq">II.</hi> Buch. <hirendition="#aq">II.</hi> Hauptſt.</fw><lb/>
nichts gewinnen kan, wenn ihm gleich gar nicht wider-<lb/>ſtanden wuͤrde, dieſes Verfahren, ſage ich, kan man die<lb/><hirendition="#fr">ſceptiſche Methode</hi> nennen. Sie iſt vom Scepticismus<lb/>
gaͤnzlich unterſchieden, einem Grundſatze einer kunſtmaͤſſi-<lb/>
gen und ſcientifiſchen Unwiſſenheit, welcher die Grundla-<lb/>
gen aller Erkentniß untergraͤbt, um, wo moͤglich, uͤber-<lb/>
all keine Zuverlaͤſſigkeit und Sicherheit derſelben uͤbrig zu<lb/>
laſſen. Denn die ſceptiſche Methode geht auf Gewißheit,<lb/>
dadurch, daß ſie in einem ſolchen, auf beiden Seiten red-<lb/>
lichgemeinten und mit Verſtande gefuͤhrten Streite, den<lb/>
Punct des Mißverſtaͤndniſſes zu entdecken ſucht, um, wie<lb/>
weiſe Geſetzgeber thun, aus der Verlegenheit der Richter<lb/>
bey Rechtshaͤndeln vor ſich ſelbſt Belehrung, von dem<lb/>
Mangelhaften und nicht genau Beſtimten in ihren Geſetzen,<lb/>
zu ziehen. Die Antinomie, die ſich in der Anwendung der<lb/>
Geſetze offenbaret, iſt bey unſerer eingeſchraͤnkten Weis-<lb/>
heit der beſte Pruͤfungsverſuch der Nomothetik, um der<lb/>
Vernunft, die in abſtracter Speculation ihre Fehltritte<lb/>
nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in<lb/>
Beſtimmung ihrer Grundſaͤtze aufmerkſam zu machen.</p><lb/><p>Dieſe ſceptiſche Methode iſt aber nur der Transſcen-<lb/>
dentalphiloſophie allein weſentlich eigen, und kan allenfals<lb/>
in iedem anderen Felde der Unterſuchungen, nur in dieſem<lb/>
nicht, entbehrt werden. In der Mathematik wuͤrde ihr<lb/>
Gebrauch ungereimt ſeyn; weil ſich in ihr keine falſche<lb/>
Behauptungen verbergen und unſichtbar machen koͤnnen,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">indem</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[424/0454]
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
nichts gewinnen kan, wenn ihm gleich gar nicht wider-
ſtanden wuͤrde, dieſes Verfahren, ſage ich, kan man die
ſceptiſche Methode nennen. Sie iſt vom Scepticismus
gaͤnzlich unterſchieden, einem Grundſatze einer kunſtmaͤſſi-
gen und ſcientifiſchen Unwiſſenheit, welcher die Grundla-
gen aller Erkentniß untergraͤbt, um, wo moͤglich, uͤber-
all keine Zuverlaͤſſigkeit und Sicherheit derſelben uͤbrig zu
laſſen. Denn die ſceptiſche Methode geht auf Gewißheit,
dadurch, daß ſie in einem ſolchen, auf beiden Seiten red-
lichgemeinten und mit Verſtande gefuͤhrten Streite, den
Punct des Mißverſtaͤndniſſes zu entdecken ſucht, um, wie
weiſe Geſetzgeber thun, aus der Verlegenheit der Richter
bey Rechtshaͤndeln vor ſich ſelbſt Belehrung, von dem
Mangelhaften und nicht genau Beſtimten in ihren Geſetzen,
zu ziehen. Die Antinomie, die ſich in der Anwendung der
Geſetze offenbaret, iſt bey unſerer eingeſchraͤnkten Weis-
heit der beſte Pruͤfungsverſuch der Nomothetik, um der
Vernunft, die in abſtracter Speculation ihre Fehltritte
nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in
Beſtimmung ihrer Grundſaͤtze aufmerkſam zu machen.
Dieſe ſceptiſche Methode iſt aber nur der Transſcen-
dentalphiloſophie allein weſentlich eigen, und kan allenfals
in iedem anderen Felde der Unterſuchungen, nur in dieſem
nicht, entbehrt werden. In der Mathematik wuͤrde ihr
Gebrauch ungereimt ſeyn; weil ſich in ihr keine falſche
Behauptungen verbergen und unſichtbar machen koͤnnen,
indem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/454>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.