und unsere Nachforschung schließt nicht durch Einsicht, son- dern durch gänzliche Unbegreiflichkeit eines Princips, wel- ches so schon zum voraus ausgedacht war, daß es den Be- griff des Absolutersten enthalten mußte.
Das zweite erfoderliche Stück zur Annehmungswür- digkeit einer Hypothese ist die Zulänglichkeit derselben, um daraus a priori die Folgen, welche gegeben sind, zu be- stimmen. Wenn man zu diesem Zwecke hülfleistende Hypo- thesen herbey zu rufen genöthigt ist, so geben sie den Ver- dacht einer blossen Erdichtung, weil iede derselben an sich dieselbe Rechtfertigung bedarf, welche der zum Grunde gelegte Gedanke nöthig hatte und daher keinen tüchtigen Zeugen abgeben kan. Wenn, unter Voraussetzung einer unbeschränktvollkommenen Ursache, zwar an Erklärungs- gründen aller Zweckmässigkeit, Ordnung und Grösse, die sich in der Welt finden, kein Mangel ist, so bedarf iene doch, bey denen, wenigstens nach unseren Begriffen, sich zeigenden Abweichungen und Uebeln, noch neuer Hypothe- sen, um gegen diese, als Einwürfe, gerettet zu werden. Wenn die einfache Selbstständigkeit der menschlichen Seele, die zum Grunde ihrer Erscheinungen gelegt worden, durch die Schwierigkeiten ihrer, den Abänderungen einer Ma- terie (dem Wachsthum und Abnahme) ähnlichen Phäno- mene angefochten wird, so müssen neue Hypothesen zu Hülfe gerufen werden, die zwar nicht ohne Schein, aber doch ohne alle Beglaubigung sind, ausser derienigen, wel-
che
Methodenlehre I. Hauptſt. III. Abſch.
und unſere Nachforſchung ſchließt nicht durch Einſicht, ſon- dern durch gaͤnzliche Unbegreiflichkeit eines Princips, wel- ches ſo ſchon zum voraus ausgedacht war, daß es den Be- griff des Abſoluterſten enthalten mußte.
Das zweite erfoderliche Stuͤck zur Annehmungswuͤr- digkeit einer Hypotheſe iſt die Zulaͤnglichkeit derſelben, um daraus a priori die Folgen, welche gegeben ſind, zu be- ſtimmen. Wenn man zu dieſem Zwecke huͤlfleiſtende Hypo- theſen herbey zu rufen genoͤthigt iſt, ſo geben ſie den Ver- dacht einer bloſſen Erdichtung, weil iede derſelben an ſich dieſelbe Rechtfertigung bedarf, welche der zum Grunde gelegte Gedanke noͤthig hatte und daher keinen tuͤchtigen Zeugen abgeben kan. Wenn, unter Vorausſetzung einer unbeſchraͤnktvollkommenen Urſache, zwar an Erklaͤrungs- gruͤnden aller Zweckmaͤſſigkeit, Ordnung und Groͤſſe, die ſich in der Welt finden, kein Mangel iſt, ſo bedarf iene doch, bey denen, wenigſtens nach unſeren Begriffen, ſich zeigenden Abweichungen und Uebeln, noch neuer Hypothe- ſen, um gegen dieſe, als Einwuͤrfe, gerettet zu werden. Wenn die einfache Selbſtſtaͤndigkeit der menſchlichen Seele, die zum Grunde ihrer Erſcheinungen gelegt worden, durch die Schwierigkeiten ihrer, den Abaͤnderungen einer Ma- terie (dem Wachsthum und Abnahme) aͤhnlichen Phaͤno- mene angefochten wird, ſo muͤſſen neue Hypotheſen zu Huͤlfe gerufen werden, die zwar nicht ohne Schein, aber doch ohne alle Beglaubigung ſind, auſſer derienigen, wel-
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Methodenlehre I. Hauptſt. III. Abſch.
und unſere Nachforſchung ſchließt nicht durch Einſicht, ſon-
dern durch gaͤnzliche Unbegreiflichkeit eines Princips, wel-
ches ſo ſchon zum voraus ausgedacht war, daß es den Be-
griff des Abſoluterſten enthalten mußte.
Das zweite erfoderliche Stuͤck zur Annehmungswuͤr-
digkeit einer Hypotheſe iſt die Zulaͤnglichkeit derſelben, um
daraus a priori die Folgen, welche gegeben ſind, zu be-
ſtimmen. Wenn man zu dieſem Zwecke huͤlfleiſtende Hypo-
theſen herbey zu rufen genoͤthigt iſt, ſo geben ſie den Ver-
dacht einer bloſſen Erdichtung, weil iede derſelben an ſich
dieſelbe Rechtfertigung bedarf, welche der zum Grunde
gelegte Gedanke noͤthig hatte und daher keinen tuͤchtigen
Zeugen abgeben kan. Wenn, unter Vorausſetzung einer
unbeſchraͤnktvollkommenen Urſache, zwar an Erklaͤrungs-
gruͤnden aller Zweckmaͤſſigkeit, Ordnung und Groͤſſe, die
ſich in der Welt finden, kein Mangel iſt, ſo bedarf iene
doch, bey denen, wenigſtens nach unſeren Begriffen, ſich
zeigenden Abweichungen und Uebeln, noch neuer Hypothe-
ſen, um gegen dieſe, als Einwuͤrfe, gerettet zu werden.
Wenn die einfache Selbſtſtaͤndigkeit der menſchlichen Seele,
die zum Grunde ihrer Erſcheinungen gelegt worden, durch
die Schwierigkeiten ihrer, den Abaͤnderungen einer Ma-
terie (dem Wachsthum und Abnahme) aͤhnlichen Phaͤno-
mene angefochten wird, ſo muͤſſen neue Hypotheſen zu
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 774. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/804>, abgerufen am 22.11.2024.
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