Der Transscendentalen Methodenlehre Zweites Hauptstück. Der Canon der reinen Vernunft.
Es ist demüthigend vor die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und so gar noch einer Disciplin bedarf, um ihre Ausschwei- fungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhüten. Allein anderer Seits erhebt es sie wiederum und giebt ihr ein Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disciplin selbst ausüben kan und muß, ohne eine andere Censur über sich zu gestatten, imgleichen, daß die Gränzen, die sie ihrem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnde Anmassungen iedes Gegners einschränken und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Foderungen übrig bleiben möch- te, gegen alle Angriffe sicher stellen könne. Der größte und vielleicht einzige Nutze aller Philosophie der reinen Ver- nunft ist also wol nur negativ; da sie nemlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disciplin, zur Gränzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entde- cken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu ver- hüten.
Indessen muß es doch irgendwo einen Quell von po- sitiven Erkentnissen geben, welche ins Gebiete der reinen Vernunft gehören und die vielleicht nur durch Mißverstand
zu
Der Transſcendentalen Methodenlehre Zweites Hauptſtuͤck. Der Canon der reinen Vernunft.
Es iſt demuͤthigend vor die menſchliche Vernunft, daß ſie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und ſo gar noch einer Diſciplin bedarf, um ihre Ausſchwei- fungen zu baͤndigen und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhuͤten. Allein anderer Seits erhebt es ſie wiederum und giebt ihr ein Zutrauen zu ſich ſelbſt, daß ſie dieſe Diſciplin ſelbſt ausuͤben kan und muß, ohne eine andere Cenſur uͤber ſich zu geſtatten, imgleichen, daß die Graͤnzen, die ſie ihrem ſpeculativen Gebrauche zu ſetzen genoͤthigt iſt, zugleich die vernuͤnftelnde Anmaſſungen iedes Gegners einſchraͤnken und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher uͤbertriebenen Foderungen uͤbrig bleiben moͤch- te, gegen alle Angriffe ſicher ſtellen koͤnne. Der groͤßte und vielleicht einzige Nutze aller Philoſophie der reinen Ver- nunft iſt alſo wol nur negativ; da ſie nemlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, ſondern, als Diſciplin, zur Graͤnzbeſtimmung dient und, anſtatt Wahrheit zu entde- cken, nur das ſtille Verdienſt hat, Irrthuͤmer zu ver- huͤten.
Indeſſen muß es doch irgendwo einen Quell von po- ſitiven Erkentniſſen geben, welche ins Gebiete der reinen Vernunft gehoͤren und die vielleicht nur durch Mißverſtand
zu
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0825"n="795"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Der</hi><lb/>
Transſcendentalen Methodenlehre<lb/><hirendition="#g">Zweites Hauptſtuͤck</hi>.<lb/>
Der Canon der reinen Vernunft.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>s iſt demuͤthigend vor die menſchliche Vernunft, daß<lb/>ſie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und<lb/>ſo gar noch einer Diſciplin bedarf, um ihre Ausſchwei-<lb/>
fungen zu baͤndigen und die Blendwerke, die ihr daher<lb/>
kommen, zu verhuͤten. Allein anderer Seits erhebt es<lb/>ſie wiederum und giebt ihr ein Zutrauen zu ſich ſelbſt, daß<lb/>ſie dieſe Diſciplin ſelbſt ausuͤben kan und muß, ohne eine<lb/>
andere Cenſur uͤber ſich zu geſtatten, imgleichen, daß die<lb/>
Graͤnzen, die ſie ihrem ſpeculativen Gebrauche zu ſetzen<lb/>
genoͤthigt iſt, zugleich die vernuͤnftelnde Anmaſſungen iedes<lb/>
Gegners einſchraͤnken und mithin alles, was ihr noch von<lb/>
ihren vorher uͤbertriebenen Foderungen uͤbrig bleiben moͤch-<lb/>
te, gegen alle Angriffe ſicher ſtellen koͤnne. Der groͤßte<lb/>
und vielleicht einzige Nutze aller Philoſophie der reinen Ver-<lb/>
nunft iſt alſo wol nur negativ; da ſie nemlich nicht, als<lb/>
Organon, zur Erweiterung, ſondern, als Diſciplin, zur<lb/>
Graͤnzbeſtimmung dient und, anſtatt Wahrheit zu entde-<lb/>
cken, nur das ſtille Verdienſt hat, Irrthuͤmer zu ver-<lb/>
huͤten.</p><lb/><p>Indeſſen muß es doch irgendwo einen Quell von po-<lb/>ſitiven Erkentniſſen geben, welche ins Gebiete der reinen<lb/>
Vernunft gehoͤren und die vielleicht nur durch Mißverſtand<lb/><fwplace="bottom"type="catch">zu</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[795/0825]
Der
Transſcendentalen Methodenlehre
Zweites Hauptſtuͤck.
Der Canon der reinen Vernunft.
Es iſt demuͤthigend vor die menſchliche Vernunft, daß
ſie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und
ſo gar noch einer Diſciplin bedarf, um ihre Ausſchwei-
fungen zu baͤndigen und die Blendwerke, die ihr daher
kommen, zu verhuͤten. Allein anderer Seits erhebt es
ſie wiederum und giebt ihr ein Zutrauen zu ſich ſelbſt, daß
ſie dieſe Diſciplin ſelbſt ausuͤben kan und muß, ohne eine
andere Cenſur uͤber ſich zu geſtatten, imgleichen, daß die
Graͤnzen, die ſie ihrem ſpeculativen Gebrauche zu ſetzen
genoͤthigt iſt, zugleich die vernuͤnftelnde Anmaſſungen iedes
Gegners einſchraͤnken und mithin alles, was ihr noch von
ihren vorher uͤbertriebenen Foderungen uͤbrig bleiben moͤch-
te, gegen alle Angriffe ſicher ſtellen koͤnne. Der groͤßte
und vielleicht einzige Nutze aller Philoſophie der reinen Ver-
nunft iſt alſo wol nur negativ; da ſie nemlich nicht, als
Organon, zur Erweiterung, ſondern, als Diſciplin, zur
Graͤnzbeſtimmung dient und, anſtatt Wahrheit zu entde-
cken, nur das ſtille Verdienſt hat, Irrthuͤmer zu ver-
huͤten.
Indeſſen muß es doch irgendwo einen Quell von po-
ſitiven Erkentniſſen geben, welche ins Gebiete der reinen
Vernunft gehoͤren und die vielleicht nur durch Mißverſtand
zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 795. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/825>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.