kein Mensch bey diesen Fragen frey von allem Interesse. Denn, ob er gleich von dem moralischen, durch den Man- gel guter Gesinnungen, getrent seyn möchte: so bleibt doch auch in diesem Falle genug übrig, um zu machen, daß er ein göttliches Daseyn und eine Zukunft fürchte. Denn hiezu wird nicht mehr erfodert, als daß er wenig- stens keine Gewißheit vorschützen könne, daß kein sol- ches Wesen und kein künftig Leben anzutreffen sey, wozu, weil es durch blosse Vernunft, mithin apodictisch bewiesen werden müßte, er die Unmöglichkeit von beiden darzuthun haben würde, welches gewiß kein vernünftiger Mensch übernehmen kan. Das würde ein negativer Glaube seyn, der zwar nicht Moralität und gute Gesinnungen, aber doch das Analogon derselben bewirken, nemlich den Aus- bruch der Bösen mächtig zurückhalten könte.
Ist das aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Gränzen der Er- fahrung hinaus Aussichten eröfnet? nichts mehr, als zwey Glaubensartikel? so viel hätte auch wol der gemeine Ver-
stand,
ein natürliches Interesse an der Moralität, ob es gleich nicht ungetheilt und practisch überwiegend ist. Befestigt und vergrössert dieses Interesse und ihr werdet die Ver- nunft sehr gelehrig und selbst aufgeklärter finden, um mit dem practischen auch das speculative Interesse zu ver- einigen. Sorget ihr aber nicht davor: daß ihr vorher, wenigstens auf dem halben Wege, gute Menschen macht, so werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtiggläubige Menschen machen!
Methodenlehre II. Hauptſt. III. Abſch.
kein Menſch bey dieſen Fragen frey von allem Intereſſe. Denn, ob er gleich von dem moraliſchen, durch den Man- gel guter Geſinnungen, getrent ſeyn moͤchte: ſo bleibt doch auch in dieſem Falle genug uͤbrig, um zu machen, daß er ein goͤttliches Daſeyn und eine Zukunft fuͤrchte. Denn hiezu wird nicht mehr erfodert, als daß er wenig- ſtens keine Gewißheit vorſchuͤtzen koͤnne, daß kein ſol- ches Weſen und kein kuͤnftig Leben anzutreffen ſey, wozu, weil es durch bloſſe Vernunft, mithin apodictiſch bewieſen werden muͤßte, er die Unmoͤglichkeit von beiden darzuthun haben wuͤrde, welches gewiß kein vernuͤnftiger Menſch uͤbernehmen kan. Das wuͤrde ein negativer Glaube ſeyn, der zwar nicht Moralitaͤt und gute Geſinnungen, aber doch das Analogon derſelben bewirken, nemlich den Aus- bruch der Boͤſen maͤchtig zuruͤckhalten koͤnte.
Iſt das aber alles, wird man ſagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem ſie uͤber die Graͤnzen der Er- fahrung hinaus Ausſichten eroͤfnet? nichts mehr, als zwey Glaubensartikel? ſo viel haͤtte auch wol der gemeine Ver-
ſtand,
ein natuͤrliches Intereſſe an der Moralitaͤt, ob es gleich nicht ungetheilt und practiſch uͤberwiegend iſt. Befeſtigt und vergroͤſſert dieſes Intereſſe und ihr werdet die Ver- nunft ſehr gelehrig und ſelbſt aufgeklaͤrter finden, um mit dem practiſchen auch das ſpeculative Intereſſe zu ver- einigen. Sorget ihr aber nicht davor: daß ihr vorher, wenigſtens auf dem halben Wege, gute Menſchen macht, ſo werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtigglaͤubige Menſchen machen!
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Methodenlehre II. Hauptſt. III. Abſch.
kein Menſch bey dieſen Fragen frey von allem Intereſſe.
Denn, ob er gleich von dem moraliſchen, durch den Man-
gel guter Geſinnungen, getrent ſeyn moͤchte: ſo bleibt
doch auch in dieſem Falle genug uͤbrig, um zu machen,
daß er ein goͤttliches Daſeyn und eine Zukunft fuͤrchte.
Denn hiezu wird nicht mehr erfodert, als daß er wenig-
ſtens keine Gewißheit vorſchuͤtzen koͤnne, daß kein ſol-
ches Weſen und kein kuͤnftig Leben anzutreffen ſey, wozu,
weil es durch bloſſe Vernunft, mithin apodictiſch bewieſen
werden muͤßte, er die Unmoͤglichkeit von beiden darzuthun
haben wuͤrde, welches gewiß kein vernuͤnftiger Menſch
uͤbernehmen kan. Das wuͤrde ein negativer Glaube ſeyn,
der zwar nicht Moralitaͤt und gute Geſinnungen, aber
doch das Analogon derſelben bewirken, nemlich den Aus-
bruch der Boͤſen maͤchtig zuruͤckhalten koͤnte.
Iſt das aber alles, wird man ſagen, was reine
Vernunft ausrichtet, indem ſie uͤber die Graͤnzen der Er-
fahrung hinaus Ausſichten eroͤfnet? nichts mehr, als zwey
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*) ein natuͤrliches Intereſſe an der Moralitaͤt, ob es gleich
nicht ungetheilt und practiſch uͤberwiegend iſt. Befeſtigt
und vergroͤſſert dieſes Intereſſe und ihr werdet die Ver-
nunft ſehr gelehrig und ſelbſt aufgeklaͤrter finden, um
mit dem practiſchen auch das ſpeculative Intereſſe zu ver-
einigen. Sorget ihr aber nicht davor: daß ihr vorher,
wenigſtens auf dem halben Wege, gute Menſchen macht,
ſo werdet ihr auch niemals aus ihnen aufrichtigglaͤubige
Menſchen machen!
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 830. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/860>, abgerufen am 17.07.2024.
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