Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
Methodenlehre III. Hauptst.

Das System aller philosophischen Erkentniß ist nun
Philosophie. Man muß sie obiectiv nehmen, wenn man
darunter das Urbild der Beurtheilung aller Versuche
zu philosophiren versteht, welche iede subiective Philoso-
phie zu beurtheilen dienen soll, deren Gebäude oft so man-
nigfaltig und so veränderlich ist. Auf diese Weise ist
Philosophie eine blosse Idee von einer möglichen Wissen-
schaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man
sich aber auf mancherley Wegen zu nähern sucht, so lan-
ge, bis der einzige, sehr durch Sinnlichkeit verwachsene
Fußsteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild,
so weit als es Menschen vergönnet ist, dem Urbilde gleich
zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoso-
phie lernen; denn, wo ist sie, wer hat sie im Besitze und
woran läßt sie sich erkennen? Man kan nur philosophi-
ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol-
gung ihrer allgemeinen Principien an gewissen vorhande-
nen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des
Rechts der Vernunft, iene selbst in ihren Quellen zu un-
tersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.

Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur
ein Schulbegriff, nemlich von einem System der Erkent-
niß, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas
mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin
die logische Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu
haben. Es giebt aber noch einen Weltbegriff, (concep-
tus cosmicus)
der dieser Benennung iederzeit zum
Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-

sam
Methodenlehre III. Hauptſt.

Das Syſtem aller philoſophiſchen Erkentniß iſt nun
Philoſophie. Man muß ſie obiectiv nehmen, wenn man
darunter das Urbild der Beurtheilung aller Verſuche
zu philoſophiren verſteht, welche iede ſubiective Philoſo-
phie zu beurtheilen dienen ſoll, deren Gebaͤude oft ſo man-
nigfaltig und ſo veraͤnderlich iſt. Auf dieſe Weiſe iſt
Philoſophie eine bloſſe Idee von einer moͤglichen Wiſſen-
ſchaft, die nirgend in concreto gegeben iſt, welcher man
ſich aber auf mancherley Wegen zu naͤhern ſucht, ſo lan-
ge, bis der einzige, ſehr durch Sinnlichkeit verwachſene
Fußſteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild,
ſo weit als es Menſchen vergoͤnnet iſt, dem Urbilde gleich
zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoſo-
phie lernen; denn, wo iſt ſie, wer hat ſie im Beſitze und
woran laͤßt ſie ſich erkennen? Man kan nur philoſophi-
ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol-
gung ihrer allgemeinen Principien an gewiſſen vorhande-
nen Verſuchen uͤben, doch immer mit Vorbehalt des
Rechts der Vernunft, iene ſelbſt in ihren Quellen zu un-
terſuchen und zu beſtaͤtigen, oder zu verwerfen.

Bis dahin iſt aber der Begriff von Philoſophie nur
ein Schulbegriff, nemlich von einem Syſtem der Erkent-
niß, die nur als Wiſſenſchaft geſucht wird, ohne etwas
mehr als die ſyſtematiſche Einheit dieſes Wiſſens, mithin
die logiſche Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu
haben. Es giebt aber noch einen Weltbegriff, (concep-
tus cosmicus)
der dieſer Benennung iederzeit zum
Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-

ſam
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0868" n="838"/>
          <fw place="top" type="header">Methodenlehre <hi rendition="#aq">III.</hi> Haupt&#x017F;t.</fw><lb/>
          <p>Das Sy&#x017F;tem aller philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Erkentniß i&#x017F;t nun<lb/><hi rendition="#fr">Philo&#x017F;ophie</hi>. Man muß &#x017F;ie obiectiv nehmen, wenn man<lb/>
darunter das Urbild der Beurtheilung aller Ver&#x017F;uche<lb/>
zu philo&#x017F;ophiren ver&#x017F;teht, welche iede &#x017F;ubiective Philo&#x017F;o-<lb/>
phie zu beurtheilen dienen &#x017F;oll, deren Geba&#x0364;ude oft &#x017F;o man-<lb/>
nigfaltig und &#x017F;o vera&#x0364;nderlich i&#x017F;t. Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e i&#x017F;t<lb/>
Philo&#x017F;ophie eine blo&#x017F;&#x017F;e Idee von einer mo&#x0364;glichen Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft, die nirgend <hi rendition="#aq">in concreto</hi> gegeben i&#x017F;t, welcher man<lb/>
&#x017F;ich aber auf mancherley Wegen zu na&#x0364;hern &#x017F;ucht, &#x017F;o lan-<lb/>
ge, bis der einzige, &#x017F;ehr durch Sinnlichkeit verwach&#x017F;ene<lb/>
Fuß&#x017F;teig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild,<lb/>
&#x017F;o weit als es Men&#x017F;chen vergo&#x0364;nnet i&#x017F;t, dem Urbilde gleich<lb/>
zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philo&#x017F;o-<lb/>
phie lernen; denn, wo i&#x017F;t &#x017F;ie, wer hat &#x017F;ie im Be&#x017F;itze und<lb/>
woran la&#x0364;ßt &#x017F;ie &#x017F;ich erkennen? Man kan nur philo&#x017F;ophi-<lb/>
ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol-<lb/>
gung ihrer allgemeinen Principien an gewi&#x017F;&#x017F;en vorhande-<lb/>
nen Ver&#x017F;uchen u&#x0364;ben, doch immer mit Vorbehalt des<lb/>
Rechts der Vernunft, iene &#x017F;elb&#x017F;t in ihren Quellen zu un-<lb/>
ter&#x017F;uchen und zu be&#x017F;ta&#x0364;tigen, oder zu verwerfen.</p><lb/>
          <p>Bis dahin i&#x017F;t aber der Begriff von Philo&#x017F;ophie nur<lb/>
ein <hi rendition="#fr">Schulbegriff,</hi> nemlich von einem Sy&#x017F;tem der Erkent-<lb/>
niß, die nur als Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft ge&#x017F;ucht wird, ohne etwas<lb/>
mehr als die &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Einheit die&#x017F;es Wi&#x017F;&#x017F;ens, mithin<lb/>
die <hi rendition="#fr">logi&#x017F;che</hi> Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu<lb/>
haben. Es giebt aber noch einen <hi rendition="#fr">Weltbegriff,</hi> <hi rendition="#aq">(concep-<lb/>
tus cosmicus)</hi> der die&#x017F;er Benennung iederzeit zum<lb/>
Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;am</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[838/0868] Methodenlehre III. Hauptſt. Das Syſtem aller philoſophiſchen Erkentniß iſt nun Philoſophie. Man muß ſie obiectiv nehmen, wenn man darunter das Urbild der Beurtheilung aller Verſuche zu philoſophiren verſteht, welche iede ſubiective Philoſo- phie zu beurtheilen dienen ſoll, deren Gebaͤude oft ſo man- nigfaltig und ſo veraͤnderlich iſt. Auf dieſe Weiſe iſt Philoſophie eine bloſſe Idee von einer moͤglichen Wiſſen- ſchaft, die nirgend in concreto gegeben iſt, welcher man ſich aber auf mancherley Wegen zu naͤhern ſucht, ſo lan- ge, bis der einzige, ſehr durch Sinnlichkeit verwachſene Fußſteig entdeckt wird, und das bisher verfehlte Nachbild, ſo weit als es Menſchen vergoͤnnet iſt, dem Urbilde gleich zu machen gelinget. Bis dahin kan man keine Philoſo- phie lernen; denn, wo iſt ſie, wer hat ſie im Beſitze und woran laͤßt ſie ſich erkennen? Man kan nur philoſophi- ren lernen, d. i. das Talent der Vernunft in der Befol- gung ihrer allgemeinen Principien an gewiſſen vorhande- nen Verſuchen uͤben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, iene ſelbſt in ihren Quellen zu un- terſuchen und zu beſtaͤtigen, oder zu verwerfen. Bis dahin iſt aber der Begriff von Philoſophie nur ein Schulbegriff, nemlich von einem Syſtem der Erkent- niß, die nur als Wiſſenſchaft geſucht wird, ohne etwas mehr als die ſyſtematiſche Einheit dieſes Wiſſens, mithin die logiſche Vollkommenheit der Erkentniß zum Zwecke zu haben. Es giebt aber noch einen Weltbegriff, (concep- tus cosmicus) der dieſer Benennung iederzeit zum Grunde gelegen hat, vornemlich, wenn man ihn gleich- ſam

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/868
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 838. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/868>, abgerufen am 18.06.2024.