Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt
ausgesprochen. Man wirbt um jedes andern Beystim-
mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge-
mein ist, auf welche man auch rechnen könnte, wenn
man nur immer sicher wäre, daß der Fall unter jenem
Grunde als Regel des Beyfalls richtig subsumirt wäre.

§. 20.
Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein
Geschmacksurtheil vorgiebt, ist die Jdee
eines Gemeinsinnes.

Wenn Geschmacksurtheile (gleich den Erkenntnis-
urtheilen) ein bestimmtes objectives Princip hätten, so
würde der, so es nach dem letztern fället, auf unbedingte
Nothwendigkeit seines Urtheils Anspruch machen. Wä-
ren sie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen-
geschmacks, so würde man sich gar keine Nothwendigkeit
desselben in die Gedanken kommen lassen. Also müssen
sie ein subjectives Princip haben, welches nur durch Ge-
fühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig
bestimme, was gefalle oder misfalle. Ein solches Prin-
cip aber könnte nur als ein Gemeinsinn angesehen
werden, der vom gemeinen Verstande, den man biswei-
len auch Gemeinsinn (sensus communis) nennt, wesentlich
unterschieden ist, indem letzterer nicht nach Gefühl, son-
dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach
ihnen, als nur dunkel vorgestellten Principien, urtheilt.

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt
ausgeſprochen. Man wirbt um jedes andern Beyſtim-
mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge-
mein iſt, auf welche man auch rechnen koͤnnte, wenn
man nur immer ſicher waͤre, daß der Fall unter jenem
Grunde als Regel des Beyfalls richtig ſubſumirt waͤre.

§. 20.
Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein
Geſchmacksurtheil vorgiebt, iſt die Jdee
eines Gemeinſinnes.

Wenn Geſchmacksurtheile (gleich den Erkenntnis-
urtheilen) ein beſtimmtes objectives Princip haͤtten, ſo
wuͤrde der, ſo es nach dem letztern faͤllet, auf unbedingte
Nothwendigkeit ſeines Urtheils Anſpruch machen. Waͤ-
ren ſie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen-
geſchmacks, ſo wuͤrde man ſich gar keine Nothwendigkeit
deſſelben in die Gedanken kommen laſſen. Alſo muͤſſen
ſie ein ſubjectives Princip haben, welches nur durch Ge-
fuͤhl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeinguͤltig
beſtimme, was gefalle oder misfalle. Ein ſolches Prin-
cip aber koͤnnte nur als ein Gemeinſinn angeſehen
werden, der vom gemeinen Verſtande, den man biswei-
len auch Gemeinſinn (ſenſus communis) nennt, weſentlich
unterſchieden iſt, indem letzterer nicht nach Gefuͤhl, ſon-
dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach
ihnen, als nur dunkel vorgeſtellten Principien, urtheilt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0127" n="63"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt<lb/>
ausge&#x017F;prochen. Man wirbt um jedes andern Bey&#x017F;tim-<lb/>
mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge-<lb/>
mein i&#x017F;t, auf welche man auch rechnen ko&#x0364;nnte, wenn<lb/>
man nur immer &#x017F;icher wa&#x0364;re, daß der Fall unter jenem<lb/>
Grunde als Regel des Beyfalls richtig &#x017F;ub&#x017F;umirt wa&#x0364;re.</p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#b">§. 20.<lb/>
Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein<lb/>
Ge&#x017F;chmacksurtheil vorgiebt, i&#x017F;t die Jdee<lb/>
eines Gemein&#x017F;innes.</hi> </head><lb/>
                <p>Wenn Ge&#x017F;chmacksurtheile (gleich den Erkenntnis-<lb/>
urtheilen) ein be&#x017F;timmtes objectives Princip ha&#x0364;tten, &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rde der, &#x017F;o es nach dem letztern fa&#x0364;llet, auf unbedingte<lb/>
Nothwendigkeit &#x017F;eines Urtheils An&#x017F;pruch machen. Wa&#x0364;-<lb/>
ren &#x017F;ie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen-<lb/>
ge&#x017F;chmacks, &#x017F;o wu&#x0364;rde man &#x017F;ich gar keine Nothwendigkeit<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben in die Gedanken kommen la&#x017F;&#x017F;en. Al&#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ie ein &#x017F;ubjectives Princip haben, welches nur durch Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingu&#x0364;ltig<lb/>
be&#x017F;timme, was gefalle oder misfalle. Ein &#x017F;olches Prin-<lb/>
cip aber ko&#x0364;nnte nur als ein <hi rendition="#fr">Gemein&#x017F;inn</hi> ange&#x017F;ehen<lb/>
werden, der vom gemeinen Ver&#x017F;tande, den man biswei-<lb/>
len auch Gemein&#x017F;inn (<hi rendition="#aq">&#x017F;en&#x017F;us communis</hi>) nennt, we&#x017F;entlich<lb/>
unter&#x017F;chieden i&#x017F;t, indem letzterer nicht nach Gefu&#x0364;hl, &#x017F;on-<lb/>
dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach<lb/>
ihnen, als nur dunkel vorge&#x017F;tellten Principien, urtheilt.</p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0127] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. die zur Beurtheilung erfordert werden, doch nur bedingt ausgeſprochen. Man wirbt um jedes andern Beyſtim- mung, weil man dazu einen Grund hat, der allen ge- mein iſt, auf welche man auch rechnen koͤnnte, wenn man nur immer ſicher waͤre, daß der Fall unter jenem Grunde als Regel des Beyfalls richtig ſubſumirt waͤre. §. 20. Die Bedingung der Nothwendigkeit, die ein Geſchmacksurtheil vorgiebt, iſt die Jdee eines Gemeinſinnes. Wenn Geſchmacksurtheile (gleich den Erkenntnis- urtheilen) ein beſtimmtes objectives Princip haͤtten, ſo wuͤrde der, ſo es nach dem letztern faͤllet, auf unbedingte Nothwendigkeit ſeines Urtheils Anſpruch machen. Waͤ- ren ſie ohne alles Princip, wie die des bloßen Sinnen- geſchmacks, ſo wuͤrde man ſich gar keine Nothwendigkeit deſſelben in die Gedanken kommen laſſen. Alſo muͤſſen ſie ein ſubjectives Princip haben, welches nur durch Ge- fuͤhl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeinguͤltig beſtimme, was gefalle oder misfalle. Ein ſolches Prin- cip aber koͤnnte nur als ein Gemeinſinn angeſehen werden, der vom gemeinen Verſtande, den man biswei- len auch Gemeinſinn (ſenſus communis) nennt, weſentlich unterſchieden iſt, indem letzterer nicht nach Gefuͤhl, ſon- dern jederzeit nach Begriffen, wiewohl gemeiniglich nach ihnen, als nur dunkel vorgeſtellten Principien, urtheilt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/127
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/127>, abgerufen am 04.12.2024.