Alles steif-regelmäßige (was der mathematischen Re- gelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackwidrige an sich: daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung dessel- ben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich das Er- kenntnis, oder einen bestimmten practischen Zweck zur Ab- sicht hat, lange Weile macht. Dagegen ist das, womit Ein- bildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns jederzeit neu und man wird seines Anblicks nicht überdrüßig. Marsden in seiner Beschreibung von Sumatra macht die Anmerkung, daß die freye Schönheiten der Natur den Zu- schauer daselbst überall umgeben und daher wenig anziehen- des mehr für ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die Stangen an denen sich dieses Gewächs rankt, in Parallel- linien Alleen zwischen sich bilden, wenn er ihn mitten in ei- nem Walde antraf, für thn viel Reiz hatte, und schließt daraus, daß wilde, dem Anscheine nach regellose Schönheit, nur dem zur Abwechselung gefalle, der sich an der regelmäs- sigen satt gesehen hat. Allein er durfte nur den Versuch ma- chen, sich einen Tag bey seinem Pfeffergarten aufzuhalten, um inne zu werden, daß, wenn der Verstand durch die Re- gelmäßigkeit sich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller- wärts bedarf, versetzt hat, ihn der Gegenstand nicht länger unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen lästigen Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig- keiten bis zur Ueppigkeit verschwenderische Natur, die keinem Zwange künstlicher Regeln unterworfen ist, seinem Ge- schmacke für beständig Nahrung geben könne. -- Selbst der Gesang der Vögel, den wir unter keine musikalische Regel bringen können, scheint mehr Freyheit und darum mehr für den Geschmack zu enthalten, als selbst ein menschlicher Ge- sang, der nach allen Regeln der Tonkunst geführt wird; weil man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt
E 4
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Alles ſteif-regelmaͤßige (was der mathematiſchen Re- gelmaͤßigkeit nahe kommt) hat das Geſchmackwidrige an ſich: daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung deſſel- ben gewaͤhrt, ſondern, ſofern es nicht ausdruͤcklich das Er- kenntnis, oder einen beſtimmten practiſchen Zweck zur Ab- ſicht hat, lange Weile macht. Dagegen iſt das, womit Ein- bildungskraft ungeſucht und zweckmaͤßig ſpielen kann, uns jederzeit neu und man wird ſeines Anblicks nicht uͤberdruͤßig. Marsden in ſeiner Beſchreibung von Sumatra macht die Anmerkung, daß die freye Schoͤnheiten der Natur den Zu- ſchauer daſelbſt uͤberall umgeben und daher wenig anziehen- des mehr fuͤr ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die Stangen an denen ſich dieſes Gewaͤchs rankt, in Parallel- linien Alleen zwiſchen ſich bilden, wenn er ihn mitten in ei- nem Walde antraf, fuͤr thn viel Reiz hatte, und ſchließt daraus, daß wilde, dem Anſcheine nach regelloſe Schoͤnheit, nur dem zur Abwechſelung gefalle, der ſich an der regelmaͤſ- ſigen ſatt geſehen hat. Allein er durfte nur den Verſuch ma- chen, ſich einen Tag bey ſeinem Pfeffergarten aufzuhalten, um inne zu werden, daß, wenn der Verſtand durch die Re- gelmaͤßigkeit ſich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller- waͤrts bedarf, verſetzt hat, ihn der Gegenſtand nicht laͤnger unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen laͤſtigen Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig- keiten bis zur Ueppigkeit verſchwenderiſche Natur, die keinem Zwange kuͤnſtlicher Regeln unterworfen iſt, ſeinem Ge- ſchmacke fuͤr beſtaͤndig Nahrung geben koͤnne. — Selbſt der Geſang der Voͤgel, den wir unter keine muſikaliſche Regel bringen koͤnnen, ſcheint mehr Freyheit und darum mehr fuͤr den Geſchmack zu enthalten, als ſelbſt ein menſchlicher Ge- ſang, der nach allen Regeln der Tonkunſt gefuͤhrt wird; weil man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt
E 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0135"n="71"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/><p>Alles ſteif-regelmaͤßige (was der mathematiſchen Re-<lb/>
gelmaͤßigkeit nahe kommt) hat das Geſchmackwidrige an ſich:<lb/>
daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung deſſel-<lb/>
ben gewaͤhrt, ſondern, ſofern es nicht ausdruͤcklich das Er-<lb/>
kenntnis, oder einen beſtimmten practiſchen Zweck zur Ab-<lb/>ſicht hat, lange Weile macht. Dagegen iſt das, womit Ein-<lb/>
bildungskraft ungeſucht und zweckmaͤßig ſpielen kann, uns<lb/>
jederzeit neu und man wird ſeines Anblicks nicht uͤberdruͤßig.<lb/><hirendition="#fr">Marsden</hi> in ſeiner Beſchreibung von Sumatra macht die<lb/>
Anmerkung, daß die freye Schoͤnheiten der Natur den Zu-<lb/>ſchauer daſelbſt uͤberall umgeben und daher wenig anziehen-<lb/>
des mehr fuͤr ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die<lb/>
Stangen an denen ſich dieſes Gewaͤchs rankt, in Parallel-<lb/>
linien Alleen zwiſchen ſich bilden, wenn er ihn mitten in ei-<lb/>
nem Walde antraf, fuͤr thn viel Reiz hatte, und ſchließt<lb/>
daraus, daß wilde, dem Anſcheine nach regelloſe Schoͤnheit,<lb/>
nur dem zur Abwechſelung gefalle, der ſich an der regelmaͤſ-<lb/>ſigen ſatt geſehen hat. Allein er durfte nur den Verſuch ma-<lb/>
chen, ſich einen Tag bey ſeinem Pfeffergarten aufzuhalten,<lb/>
um inne zu werden, daß, wenn der Verſtand durch die Re-<lb/>
gelmaͤßigkeit ſich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller-<lb/>
waͤrts bedarf, verſetzt hat, ihn der Gegenſtand nicht laͤnger<lb/>
unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen laͤſtigen<lb/>
Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig-<lb/>
keiten bis zur Ueppigkeit verſchwenderiſche Natur, die keinem<lb/>
Zwange kuͤnſtlicher Regeln unterworfen iſt, ſeinem Ge-<lb/>ſchmacke fuͤr beſtaͤndig Nahrung geben koͤnne. — Selbſt der<lb/>
Geſang der Voͤgel, den wir unter keine muſikaliſche Regel<lb/>
bringen koͤnnen, ſcheint mehr Freyheit und darum mehr fuͤr<lb/>
den Geſchmack zu enthalten, als ſelbſt ein menſchlicher Ge-<lb/>ſang, der nach allen Regeln der Tonkunſt gefuͤhrt wird; weil<lb/>
man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">E 4</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[71/0135]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Alles ſteif-regelmaͤßige (was der mathematiſchen Re-
gelmaͤßigkeit nahe kommt) hat das Geſchmackwidrige an ſich:
daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung deſſel-
ben gewaͤhrt, ſondern, ſofern es nicht ausdruͤcklich das Er-
kenntnis, oder einen beſtimmten practiſchen Zweck zur Ab-
ſicht hat, lange Weile macht. Dagegen iſt das, womit Ein-
bildungskraft ungeſucht und zweckmaͤßig ſpielen kann, uns
jederzeit neu und man wird ſeines Anblicks nicht uͤberdruͤßig.
Marsden in ſeiner Beſchreibung von Sumatra macht die
Anmerkung, daß die freye Schoͤnheiten der Natur den Zu-
ſchauer daſelbſt uͤberall umgeben und daher wenig anziehen-
des mehr fuͤr ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die
Stangen an denen ſich dieſes Gewaͤchs rankt, in Parallel-
linien Alleen zwiſchen ſich bilden, wenn er ihn mitten in ei-
nem Walde antraf, fuͤr thn viel Reiz hatte, und ſchließt
daraus, daß wilde, dem Anſcheine nach regelloſe Schoͤnheit,
nur dem zur Abwechſelung gefalle, der ſich an der regelmaͤſ-
ſigen ſatt geſehen hat. Allein er durfte nur den Verſuch ma-
chen, ſich einen Tag bey ſeinem Pfeffergarten aufzuhalten,
um inne zu werden, daß, wenn der Verſtand durch die Re-
gelmaͤßigkeit ſich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller-
waͤrts bedarf, verſetzt hat, ihn der Gegenſtand nicht laͤnger
unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen laͤſtigen
Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig-
keiten bis zur Ueppigkeit verſchwenderiſche Natur, die keinem
Zwange kuͤnſtlicher Regeln unterworfen iſt, ſeinem Ge-
ſchmacke fuͤr beſtaͤndig Nahrung geben koͤnne. — Selbſt der
Geſang der Voͤgel, den wir unter keine muſikaliſche Regel
bringen koͤnnen, ſcheint mehr Freyheit und darum mehr fuͤr
den Geſchmack zu enthalten, als ſelbſt ein menſchlicher Ge-
ſang, der nach allen Regeln der Tonkunſt gefuͤhrt wird; weil
man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt
E 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/135>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.