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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.

Alles steif-regelmäßige (was der mathematischen Re-
gelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackwidrige an sich:
daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung dessel-
ben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich das Er-
kenntnis, oder einen bestimmten practischen Zweck zur Ab-
sicht hat, lange Weile macht. Dagegen ist das, womit Ein-
bildungskraft ungesucht und zweckmäßig spielen kann, uns
jederzeit neu und man wird seines Anblicks nicht überdrüßig.
Marsden in seiner Beschreibung von Sumatra macht die
Anmerkung, daß die freye Schönheiten der Natur den Zu-
schauer daselbst überall umgeben und daher wenig anziehen-
des mehr für ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die
Stangen an denen sich dieses Gewächs rankt, in Parallel-
linien Alleen zwischen sich bilden, wenn er ihn mitten in ei-
nem Walde antraf, für thn viel Reiz hatte, und schließt
daraus, daß wilde, dem Anscheine nach regellose Schönheit,
nur dem zur Abwechselung gefalle, der sich an der regelmäs-
sigen satt gesehen hat. Allein er durfte nur den Versuch ma-
chen, sich einen Tag bey seinem Pfeffergarten aufzuhalten,
um inne zu werden, daß, wenn der Verstand durch die Re-
gelmäßigkeit sich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller-
wärts bedarf, versetzt hat, ihn der Gegenstand nicht länger
unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen lästigen
Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig-
keiten bis zur Ueppigkeit verschwenderische Natur, die keinem
Zwange künstlicher Regeln unterworfen ist, seinem Ge-
schmacke für beständig Nahrung geben könne. -- Selbst der
Gesang der Vögel, den wir unter keine musikalische Regel
bringen können, scheint mehr Freyheit und darum mehr für
den Geschmack zu enthalten, als selbst ein menschlicher Ge-
sang, der nach allen Regeln der Tonkunst geführt wird; weil
man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt

E 4
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.

Alles ſteif-regelmaͤßige (was der mathematiſchen Re-
gelmaͤßigkeit nahe kommt) hat das Geſchmackwidrige an ſich:
daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung deſſel-
ben gewaͤhrt, ſondern, ſofern es nicht ausdruͤcklich das Er-
kenntnis, oder einen beſtimmten practiſchen Zweck zur Ab-
ſicht hat, lange Weile macht. Dagegen iſt das, womit Ein-
bildungskraft ungeſucht und zweckmaͤßig ſpielen kann, uns
jederzeit neu und man wird ſeines Anblicks nicht uͤberdruͤßig.
Marsden in ſeiner Beſchreibung von Sumatra macht die
Anmerkung, daß die freye Schoͤnheiten der Natur den Zu-
ſchauer daſelbſt uͤberall umgeben und daher wenig anziehen-
des mehr fuͤr ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die
Stangen an denen ſich dieſes Gewaͤchs rankt, in Parallel-
linien Alleen zwiſchen ſich bilden, wenn er ihn mitten in ei-
nem Walde antraf, fuͤr thn viel Reiz hatte, und ſchließt
daraus, daß wilde, dem Anſcheine nach regelloſe Schoͤnheit,
nur dem zur Abwechſelung gefalle, der ſich an der regelmaͤſ-
ſigen ſatt geſehen hat. Allein er durfte nur den Verſuch ma-
chen, ſich einen Tag bey ſeinem Pfeffergarten aufzuhalten,
um inne zu werden, daß, wenn der Verſtand durch die Re-
gelmaͤßigkeit ſich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller-
waͤrts bedarf, verſetzt hat, ihn der Gegenſtand nicht laͤnger
unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen laͤſtigen
Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig-
keiten bis zur Ueppigkeit verſchwenderiſche Natur, die keinem
Zwange kuͤnſtlicher Regeln unterworfen iſt, ſeinem Ge-
ſchmacke fuͤr beſtaͤndig Nahrung geben koͤnne. — Selbſt der
Geſang der Voͤgel, den wir unter keine muſikaliſche Regel
bringen koͤnnen, ſcheint mehr Freyheit und darum mehr fuͤr
den Geſchmack zu enthalten, als ſelbſt ein menſchlicher Ge-
ſang, der nach allen Regeln der Tonkunſt gefuͤhrt wird; weil
man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt

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[71/0135] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Alles ſteif-regelmaͤßige (was der mathematiſchen Re- gelmaͤßigkeit nahe kommt) hat das Geſchmackwidrige an ſich: daß es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung deſſel- ben gewaͤhrt, ſondern, ſofern es nicht ausdruͤcklich das Er- kenntnis, oder einen beſtimmten practiſchen Zweck zur Ab- ſicht hat, lange Weile macht. Dagegen iſt das, womit Ein- bildungskraft ungeſucht und zweckmaͤßig ſpielen kann, uns jederzeit neu und man wird ſeines Anblicks nicht uͤberdruͤßig. Marsden in ſeiner Beſchreibung von Sumatra macht die Anmerkung, daß die freye Schoͤnheiten der Natur den Zu- ſchauer daſelbſt uͤberall umgeben und daher wenig anziehen- des mehr fuͤr ihn haben: dagegen ein Pfeffergarten, wo die Stangen an denen ſich dieſes Gewaͤchs rankt, in Parallel- linien Alleen zwiſchen ſich bilden, wenn er ihn mitten in ei- nem Walde antraf, fuͤr thn viel Reiz hatte, und ſchließt daraus, daß wilde, dem Anſcheine nach regelloſe Schoͤnheit, nur dem zur Abwechſelung gefalle, der ſich an der regelmaͤſ- ſigen ſatt geſehen hat. Allein er durfte nur den Verſuch ma- chen, ſich einen Tag bey ſeinem Pfeffergarten aufzuhalten, um inne zu werden, daß, wenn der Verſtand durch die Re- gelmaͤßigkeit ſich in die Stimmung zur Ordnung, die er aller- waͤrts bedarf, verſetzt hat, ihn der Gegenſtand nicht laͤnger unterhalte, vielmehr der Einbildungskraft einen laͤſtigen Zwang anthue: dagegen daß die dorten an Mannigfaltig- keiten bis zur Ueppigkeit verſchwenderiſche Natur, die keinem Zwange kuͤnſtlicher Regeln unterworfen iſt, ſeinem Ge- ſchmacke fuͤr beſtaͤndig Nahrung geben koͤnne. — Selbſt der Geſang der Voͤgel, den wir unter keine muſikaliſche Regel bringen koͤnnen, ſcheint mehr Freyheit und darum mehr fuͤr den Geſchmack zu enthalten, als ſelbſt ein menſchlicher Ge- ſang, der nach allen Regeln der Tonkunſt gefuͤhrt wird; weil man den letztern, wenn er oft und lange Zeit wiederholt E 4

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/135>, abgerufen am 04.12.2024.