doch (selbst wider sein Urtheil) dem gemeinen Wahne zu bequemen in seiner Begierde nach Beyfall Ursache findet. Nur späterhin, wenn seine Urtheilskraft durch Aus- übung mehr geschärft worden, geht er freywillig von seinem vorigen Urtheile ab; so wie er es auch mit seinen Urtheilen hält, die ganz auf der Vernunft beruhen. Der Geschmack macht auf Autonomie Anspruch. Fremde Ur- theile sich zum Bestimmungsgrunde des seinigen zu ma- chen, wäre Heteronomie.
Daß man die Werke der Alten mit Recht zu Mu- stern anpreiset, und die Verfasser derselben classisch nennt, gleich einem gewissen Adel unter den Schriftstellern, der dem Volke durch seinen Vorgang Gesetze giebt, scheint Quellen des Geschmacks a posteriori anzuzeigen und die Autonomie desselben in jedem Subjecte zu widerlegen. Allein man könnte eben so gut sagen, daß die alten Ma- thematiker, die bis jetzt für nicht wohl zu entbehrende Muster der höchsten Gründlichkeit und Eleganz der syn- thetischen Methode gehalten werden, auch eine nachah- mende Vernunft auf unserer Seite bewiesen und ein Un- vermögen derselben aus sich selbst strenge Beweise, mit der größten Jntuition, durch Construction der Begriffe, hervorzubringen, darthue. Es ist gar kein Gebrauch unserer Kräfte, so frey er auch seyn mag und selbst der Vernunft, (die alle ihre Urtheile aus der gemeinschaft- lichen Quelle a priori schöpfen muß) welcher, wenn je- des Subject immer gänzlich von der rohen Anlage sei-
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
doch (ſelbſt wider ſein Urtheil) dem gemeinen Wahne zu bequemen in ſeiner Begierde nach Beyfall Urſache findet. Nur ſpaͤterhin, wenn ſeine Urtheilskraft durch Aus- uͤbung mehr geſchaͤrft worden, geht er freywillig von ſeinem vorigen Urtheile ab; ſo wie er es auch mit ſeinen Urtheilen haͤlt, die ganz auf der Vernunft beruhen. Der Geſchmack macht auf Autonomie Anſpruch. Fremde Ur- theile ſich zum Beſtimmungsgrunde des ſeinigen zu ma- chen, waͤre Heteronomie.
Daß man die Werke der Alten mit Recht zu Mu- ſtern anpreiſet, und die Verfaſſer derſelben claſſiſch nennt, gleich einem gewiſſen Adel unter den Schriftſtellern, der dem Volke durch ſeinen Vorgang Geſetze giebt, ſcheint Quellen des Geſchmacks a poſteriori anzuzeigen und die Autonomie deſſelben in jedem Subjecte zu widerlegen. Allein man koͤnnte eben ſo gut ſagen, daß die alten Ma- thematiker, die bis jetzt fuͤr nicht wohl zu entbehrende Muſter der hoͤchſten Gruͤndlichkeit und Eleganz der ſyn- thetiſchen Methode gehalten werden, auch eine nachah- mende Vernunft auf unſerer Seite bewieſen und ein Un- vermoͤgen derſelben aus ſich ſelbſt ſtrenge Beweiſe, mit der groͤßten Jntuition, durch Conſtruction der Begriffe, hervorzubringen, darthue. Es iſt gar kein Gebrauch unſerer Kraͤfte, ſo frey er auch ſeyn mag und ſelbſt der Vernunft, (die alle ihre Urtheile aus der gemeinſchaft- lichen Quelle a priori ſchoͤpfen muß) welcher, wenn je- des Subject immer gaͤnzlich von der rohen Anlage ſei-
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
doch (ſelbſt wider ſein Urtheil) dem gemeinen Wahne zu
bequemen in ſeiner Begierde nach Beyfall Urſache findet.
Nur ſpaͤterhin, wenn ſeine Urtheilskraft durch Aus-
uͤbung mehr geſchaͤrft worden, geht er freywillig von
ſeinem vorigen Urtheile ab; ſo wie er es auch mit ſeinen
Urtheilen haͤlt, die ganz auf der Vernunft beruhen. Der
Geſchmack macht auf Autonomie Anſpruch. Fremde Ur-
theile ſich zum Beſtimmungsgrunde des ſeinigen zu ma-
chen, waͤre Heteronomie.
Daß man die Werke der Alten mit Recht zu Mu-
ſtern anpreiſet, und die Verfaſſer derſelben claſſiſch nennt,
gleich einem gewiſſen Adel unter den Schriftſtellern, der
dem Volke durch ſeinen Vorgang Geſetze giebt, ſcheint
Quellen des Geſchmacks a poſteriori anzuzeigen und die
Autonomie deſſelben in jedem Subjecte zu widerlegen.
Allein man koͤnnte eben ſo gut ſagen, daß die alten Ma-
thematiker, die bis jetzt fuͤr nicht wohl zu entbehrende
Muſter der hoͤchſten Gruͤndlichkeit und Eleganz der ſyn-
thetiſchen Methode gehalten werden, auch eine nachah-
mende Vernunft auf unſerer Seite bewieſen und ein Un-
vermoͤgen derſelben aus ſich ſelbſt ſtrenge Beweiſe, mit
der groͤßten Jntuition, durch Conſtruction der Begriffe,
hervorzubringen, darthue. Es iſt gar kein Gebrauch
unſerer Kraͤfte, ſo frey er auch ſeyn mag und ſelbſt der
Vernunft, (die alle ihre Urtheile aus der gemeinſchaft-
lichen Quelle a priori ſchoͤpfen muß) welcher, wenn je-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/200>, abgerufen am 05.12.2024.
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