liege. Wir wollen Beyspiele anführen, die zwar zu viel Wichtigkeit haben, um sie hier so fort als erwiesene Sätze dem Leser aufzudringen, die ihm aber Stoff zum Nachdenken geben und dem, was hier unser eigenthümliches Geschäfte ist, zur Erläuterung dienen können.
Es ist dem menschlichen Verstande unumgänglich noth- wendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unter- scheiden. Der Grund davon liegt im Subjecte und der Na- tur seiner Erkenntnisvermögen. Denn, wären zu dieser ih- rer Ausübung nicht zwey ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauung für Objecte, die ihnen correspondiren, erforderlich, so würde es keine solche Unter- scheidung (zwischen dem Möglichen und Wirklichen) geben. Wäre nemlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche. Begriffe (die blos auf die Möglichkeit eines Gegenstandes) und sinnliche Anschauungen (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegen- stand erkennen zu lassen) würden beyde wegfallen. Nun be- ruht aber alle unsere Unterscheidung des blos Möglichen vom Wirklichen darauf, daß das erstere nur die Position der Vorstellung eines Dinges respectiv auf unsern Begrif und überhaupt das Vermögen zu denken, das letztere aber die Setzung des Dinges an sich selbst bedeutet. Also ist die Un- terscheidung möglicher Dinge von wirklichen eine solche, die blos subjectiv für den menschlichen Verstand gilt, da wir nämlich etwas immer noch in Gedanken haben können, ob es gleich nicht ist, oder etwas als gegeben uns vorstellen, ob wir gleich noch keinen Begrif davon haben. Die Sätze also: daß Dinge möglich seyn können ohne wirklich zu seyn, daß also aus der bloßen Möglichkeit auf die Wirklichkeit gar nicht geschlossen werden könne, gelten ganz richtig für die mensch- liche Vernunft, ohne darum zu beweisen daß dieser Unter-
schied
II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
liege. Wir wollen Beyſpiele anfuͤhren, die zwar zu viel Wichtigkeit haben, um ſie hier ſo fort als erwieſene Saͤtze dem Leſer aufzudringen, die ihm aber Stoff zum Nachdenken geben und dem, was hier unſer eigenthuͤmliches Geſchaͤfte iſt, zur Erlaͤuterung dienen koͤnnen.
Es iſt dem menſchlichen Verſtande unumgaͤnglich noth- wendig, Moͤglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unter- ſcheiden. Der Grund davon liegt im Subjecte und der Na- tur ſeiner Erkenntnisvermoͤgen. Denn, waͤren zu dieſer ih- rer Ausuͤbung nicht zwey ganz heterogene Stuͤcke, Verſtand fuͤr Begriffe und ſinnliche Anſchauung fuͤr Objecte, die ihnen correſpondiren, erforderlich, ſo wuͤrde es keine ſolche Unter- ſcheidung (zwiſchen dem Moͤglichen und Wirklichen) geben. Waͤre nemlich unſer Verſtand anſchauend, ſo haͤtte er keine Gegenſtaͤnde als das Wirkliche. Begriffe (die blos auf die Moͤglichkeit eines Gegenſtandes) und ſinnliche Anſchauungen (welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegen- ſtand erkennen zu laſſen) wuͤrden beyde wegfallen. Nun be- ruht aber alle unſere Unterſcheidung des blos Moͤglichen vom Wirklichen darauf, daß das erſtere nur die Poſition der Vorſtellung eines Dinges reſpectiv auf unſern Begrif und uͤberhaupt das Vermoͤgen zu denken, das letztere aber die Setzung des Dinges an ſich ſelbſt bedeutet. Alſo iſt die Un- terſcheidung moͤglicher Dinge von wirklichen eine ſolche, die blos ſubjectiv fuͤr den menſchlichen Verſtand gilt, da wir naͤmlich etwas immer noch in Gedanken haben koͤnnen, ob es gleich nicht iſt, oder etwas als gegeben uns vorſtellen, ob wir gleich noch keinen Begrif davon haben. Die Saͤtze alſo: daß Dinge moͤglich ſeyn koͤnnen ohne wirklich zu ſeyn, daß alſo aus der bloßen Moͤglichkeit auf die Wirklichkeit gar nicht geſchloſſen werden koͤnne, gelten ganz richtig fuͤr die menſch- liche Vernunft, ohne darum zu beweiſen daß dieſer Unter-
ſchied
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0400"n="336"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">II.</hi> Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/>
liege. Wir wollen Beyſpiele anfuͤhren, die zwar zu viel<lb/>
Wichtigkeit haben, um ſie hier ſo fort als erwieſene Saͤtze<lb/>
dem Leſer aufzudringen, die ihm aber Stoff zum Nachdenken<lb/>
geben und dem, was hier unſer eigenthuͤmliches Geſchaͤfte<lb/>
iſt, zur Erlaͤuterung dienen koͤnnen.</p><lb/><p>Es iſt dem menſchlichen Verſtande unumgaͤnglich noth-<lb/>
wendig, Moͤglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unter-<lb/>ſcheiden. Der Grund davon liegt im Subjecte und der Na-<lb/>
tur ſeiner Erkenntnisvermoͤgen. Denn, waͤren zu dieſer ih-<lb/>
rer Ausuͤbung nicht zwey ganz heterogene Stuͤcke, Verſtand<lb/>
fuͤr Begriffe und ſinnliche Anſchauung fuͤr Objecte, die ihnen<lb/>
correſpondiren, erforderlich, ſo wuͤrde es keine ſolche Unter-<lb/>ſcheidung (zwiſchen dem Moͤglichen und Wirklichen) geben.<lb/>
Waͤre nemlich unſer Verſtand anſchauend, ſo haͤtte er keine<lb/>
Gegenſtaͤnde als das Wirkliche. Begriffe (die blos auf die<lb/>
Moͤglichkeit eines Gegenſtandes) und ſinnliche Anſchauungen<lb/>
(welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegen-<lb/>ſtand erkennen zu laſſen) wuͤrden beyde wegfallen. Nun be-<lb/>
ruht aber alle unſere Unterſcheidung des blos Moͤglichen<lb/>
vom Wirklichen darauf, daß das erſtere nur die Poſition der<lb/>
Vorſtellung eines Dinges reſpectiv auf unſern Begrif und<lb/>
uͤberhaupt das Vermoͤgen zu denken, das letztere aber die<lb/>
Setzung des Dinges an ſich ſelbſt bedeutet. Alſo iſt die Un-<lb/>
terſcheidung moͤglicher Dinge von wirklichen eine ſolche, die<lb/>
blos ſubjectiv fuͤr den menſchlichen Verſtand gilt, da wir<lb/>
naͤmlich etwas immer noch in Gedanken haben koͤnnen, ob<lb/>
es gleich nicht iſt, oder etwas als gegeben uns vorſtellen, ob<lb/>
wir gleich noch keinen Begrif davon haben. Die Saͤtze alſo:<lb/>
daß Dinge moͤglich ſeyn koͤnnen ohne wirklich zu ſeyn, daß<lb/>
alſo aus der bloßen Moͤglichkeit auf die Wirklichkeit gar nicht<lb/>
geſchloſſen werden koͤnne, gelten ganz richtig fuͤr die menſch-<lb/>
liche Vernunft, ohne darum zu beweiſen daß dieſer Unter-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſchied</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[336/0400]
II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
liege. Wir wollen Beyſpiele anfuͤhren, die zwar zu viel
Wichtigkeit haben, um ſie hier ſo fort als erwieſene Saͤtze
dem Leſer aufzudringen, die ihm aber Stoff zum Nachdenken
geben und dem, was hier unſer eigenthuͤmliches Geſchaͤfte
iſt, zur Erlaͤuterung dienen koͤnnen.
Es iſt dem menſchlichen Verſtande unumgaͤnglich noth-
wendig, Moͤglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unter-
ſcheiden. Der Grund davon liegt im Subjecte und der Na-
tur ſeiner Erkenntnisvermoͤgen. Denn, waͤren zu dieſer ih-
rer Ausuͤbung nicht zwey ganz heterogene Stuͤcke, Verſtand
fuͤr Begriffe und ſinnliche Anſchauung fuͤr Objecte, die ihnen
correſpondiren, erforderlich, ſo wuͤrde es keine ſolche Unter-
ſcheidung (zwiſchen dem Moͤglichen und Wirklichen) geben.
Waͤre nemlich unſer Verſtand anſchauend, ſo haͤtte er keine
Gegenſtaͤnde als das Wirkliche. Begriffe (die blos auf die
Moͤglichkeit eines Gegenſtandes) und ſinnliche Anſchauungen
(welche uns etwas geben, ohne es dadurch doch als Gegen-
ſtand erkennen zu laſſen) wuͤrden beyde wegfallen. Nun be-
ruht aber alle unſere Unterſcheidung des blos Moͤglichen
vom Wirklichen darauf, daß das erſtere nur die Poſition der
Vorſtellung eines Dinges reſpectiv auf unſern Begrif und
uͤberhaupt das Vermoͤgen zu denken, das letztere aber die
Setzung des Dinges an ſich ſelbſt bedeutet. Alſo iſt die Un-
terſcheidung moͤglicher Dinge von wirklichen eine ſolche, die
blos ſubjectiv fuͤr den menſchlichen Verſtand gilt, da wir
naͤmlich etwas immer noch in Gedanken haben koͤnnen, ob
es gleich nicht iſt, oder etwas als gegeben uns vorſtellen, ob
wir gleich noch keinen Begrif davon haben. Die Saͤtze alſo:
daß Dinge moͤglich ſeyn koͤnnen ohne wirklich zu ſeyn, daß
alſo aus der bloßen Moͤglichkeit auf die Wirklichkeit gar nicht
geſchloſſen werden koͤnne, gelten ganz richtig fuͤr die menſch-
liche Vernunft, ohne darum zu beweiſen daß dieſer Unter-
ſchied
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/400>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.