Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

zählige Verdrüßlichkeiten dadurch zugezogen, und ei-
gentlich kann man es die Grundlage aller ihrer Un-
glüksfälle nennen.

Nach ländlicher Sitte wurde nun die kleine Dür-
bach der Großmutter zur Wartung gegeben. Sie
war ein stilles, in sich verschloßnes Kind, welches
weder im Schlaf noch im Wachen jemanden Unruhe
machte, und so blieb sie bis in ihr sechstes Jahr.
Sie kroch unter den Bänken der Gaststube herum,
und saß zu halben Tagen, wie ein Gedanke, ganz
still vor sich weg, ohne auf etwas zu merken, was
um sie her vorging. Vermuthlich hatten die Ge-
spräche der Bauern und gemeinen Gäste des Wirths-
hauses keinen Reiz für ihr Ohr, und ihren Eltern
fehlte die Zeit, sich mit ihr zu unterhalten. Indes-
sen verrieth sie doch dann und wann Lebhaftigkeit,
wenn es Vorfälle gab, welche selten genug waren,
auf das verborgene Feuer ihres Verstandes zu wür-
ken. So geschah es zum Beweise einsmals, daß
sie als ein dreijähriges Kind auf dem Arme ihrer
Großmutter der Hinrichtung eines Delinquenten zu-
sahe, und als sein Kopf mit einem Schwerdtstreich
des Nachrichters abflog, klopfte sie in die Hände,
und rief von einer plötzlichen Empfindung getrieben:
"Schwabb, war er ab!" Mit diesem Reime
entsprang der erste Funken ihres dichterischen Genies,

zaͤhlige Verdruͤßlichkeiten dadurch zugezogen, und ei-
gentlich kann man es die Grundlage aller ihrer Un-
gluͤksfaͤlle nennen.

Nach laͤndlicher Sitte wurde nun die kleine Duͤr-
bach der Großmutter zur Wartung gegeben. Sie
war ein ſtilles, in ſich verſchloßnes Kind, welches
weder im Schlaf noch im Wachen jemanden Unruhe
machte, und ſo blieb ſie bis in ihr ſechſtes Jahr.
Sie kroch unter den Baͤnken der Gaſtſtube herum,
und ſaß zu halben Tagen, wie ein Gedanke, ganz
ſtill vor ſich weg, ohne auf etwas zu merken, was
um ſie her vorging. Vermuthlich hatten die Ge-
ſpraͤche der Bauern und gemeinen Gaͤſte des Wirths-
hauſes keinen Reiz fuͤr ihr Ohr, und ihren Eltern
fehlte die Zeit, ſich mit ihr zu unterhalten. Indeſ-
ſen verrieth ſie doch dann und wann Lebhaftigkeit,
wenn es Vorfaͤlle gab, welche ſelten genug waren,
auf das verborgene Feuer ihres Verſtandes zu wuͤr-
ken. So geſchah es zum Beweiſe einsmals, daß
ſie als ein dreijaͤhriges Kind auf dem Arme ihrer
Großmutter der Hinrichtung eines Delinquenten zu-
ſahe, und als ſein Kopf mit einem Schwerdtſtreich
des Nachrichters abflog, klopfte ſie in die Haͤnde,
und rief von einer ploͤtzlichen Empfindung getrieben:
Schwabb, war er ab!“ Mit dieſem Reime
entſprang der erſte Funken ihres dichteriſchen Genies,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0046" n="14"/>
za&#x0364;hlige Verdru&#x0364;ßlichkeiten dadurch zugezogen, und ei-<lb/>
gentlich kann man es die Grundlage aller ihrer Un-<lb/>
glu&#x0364;ksfa&#x0364;lle nennen.</p><lb/>
        <p>Nach la&#x0364;ndlicher Sitte wurde nun die kleine Du&#x0364;r-<lb/>
bach der Großmutter zur Wartung gegeben. Sie<lb/>
war ein &#x017F;tilles, in &#x017F;ich ver&#x017F;chloßnes Kind, welches<lb/>
weder im Schlaf noch im Wachen jemanden Unruhe<lb/>
machte, und &#x017F;o blieb &#x017F;ie bis in ihr &#x017F;ech&#x017F;tes Jahr.<lb/>
Sie kroch unter den Ba&#x0364;nken der Ga&#x017F;t&#x017F;tube herum,<lb/>
und &#x017F;aß zu halben Tagen, wie ein Gedanke, ganz<lb/>
&#x017F;till vor &#x017F;ich weg, ohne auf etwas zu merken, was<lb/>
um &#x017F;ie her vorging. Vermuthlich hatten die Ge-<lb/>
&#x017F;pra&#x0364;che der Bauern und gemeinen Ga&#x0364;&#x017F;te des Wirths-<lb/>
hau&#x017F;es keinen Reiz fu&#x0364;r ihr Ohr, und ihren Eltern<lb/>
fehlte die Zeit, &#x017F;ich mit ihr zu unterhalten. Inde&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en verrieth &#x017F;ie doch dann und wann Lebhaftigkeit,<lb/>
wenn es Vorfa&#x0364;lle gab, welche &#x017F;elten genug waren,<lb/>
auf das verborgene Feuer ihres Ver&#x017F;tandes zu wu&#x0364;r-<lb/>
ken. So ge&#x017F;chah es zum Bewei&#x017F;e einsmals, daß<lb/>
&#x017F;ie als ein dreija&#x0364;hriges Kind auf dem Arme ihrer<lb/>
Großmutter der Hinrichtung eines Delinquenten zu-<lb/>
&#x017F;ahe, und als &#x017F;ein Kopf mit einem Schwerdt&#x017F;treich<lb/>
des Nachrichters abflog, klopfte &#x017F;ie in die Ha&#x0364;nde,<lb/>
und rief von einer plo&#x0364;tzlichen Empfindung getrieben:<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#g">Schwabb, war er ab</hi>!&#x201C; Mit die&#x017F;em Reime<lb/>
ent&#x017F;prang der er&#x017F;te Funken ihres dichteri&#x017F;chen Genies,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0046] zaͤhlige Verdruͤßlichkeiten dadurch zugezogen, und ei- gentlich kann man es die Grundlage aller ihrer Un- gluͤksfaͤlle nennen. Nach laͤndlicher Sitte wurde nun die kleine Duͤr- bach der Großmutter zur Wartung gegeben. Sie war ein ſtilles, in ſich verſchloßnes Kind, welches weder im Schlaf noch im Wachen jemanden Unruhe machte, und ſo blieb ſie bis in ihr ſechſtes Jahr. Sie kroch unter den Baͤnken der Gaſtſtube herum, und ſaß zu halben Tagen, wie ein Gedanke, ganz ſtill vor ſich weg, ohne auf etwas zu merken, was um ſie her vorging. Vermuthlich hatten die Ge- ſpraͤche der Bauern und gemeinen Gaͤſte des Wirths- hauſes keinen Reiz fuͤr ihr Ohr, und ihren Eltern fehlte die Zeit, ſich mit ihr zu unterhalten. Indeſ- ſen verrieth ſie doch dann und wann Lebhaftigkeit, wenn es Vorfaͤlle gab, welche ſelten genug waren, auf das verborgene Feuer ihres Verſtandes zu wuͤr- ken. So geſchah es zum Beweiſe einsmals, daß ſie als ein dreijaͤhriges Kind auf dem Arme ihrer Großmutter der Hinrichtung eines Delinquenten zu- ſahe, und als ſein Kopf mit einem Schwerdtſtreich des Nachrichters abflog, klopfte ſie in die Haͤnde, und rief von einer ploͤtzlichen Empfindung getrieben: „Schwabb, war er ab!“ Mit dieſem Reime entſprang der erſte Funken ihres dichteriſchen Genies,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/46
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/46>, abgerufen am 21.11.2024.