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Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907.

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betrages sich gründet, ihren Mitgliedern Taggelder zahlen? So daß die in
ihrer erdrückenden Mehrheit den besitzenden Schichten angehörenden Abgeordneten
Entschädigungen für ihren Zeitverlust und ihre Auslagen erhalten, sie, die als
Großgrundbesitzer, hohe Beamte, Fabrikanten, Großhändler es doch wahrlich
nicht nötig hätten. Die preußischen Landtagsabgeordneten z. B. erhalten für
den Tag 15 Mk. Die Mitglieder der zweiten Kammern und der Landtage mit
Einkommeneinrichtung erhalten in allen deutschen Staaten Diäten, ebenso die
Mitglieder der Provinziallandtage, Kreistage usw. Ja, während der Reichstag
diätenlos bleibt, erhalten die Bevollmächtigten des Bundesrats, welcher mit dem
Reichstage gemeinsam die Gesetzgebung ausübt, durchgängig hoch besoldete Be-
amte, für ihre Mühewaltung von den durch sie vertretenen Staaten eine reich-
liche Entschädigung. Was dem einen recht, ist dem anderen billig. Die Beauf-
tragten der deutschen Wählerschaft sollen in der Lage sein, ihre Pflichten zu er-
füllen, was für die unbemittelten Reichsboten nur möglich ist, wenn sie durch
Gewährung von Taggeldern in den Stand gesetzt sind, ohne schwere Einbuße
zu erleiden, in Berlin mitzuraten und mitzutaten. Es versteht sich am Rande,
daß das eben Ausgeführte für alle gesetzgebenden Körperschaften gilt. Der
Grundsatz des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts wird durch das Recht der
Gewählten auf Taggelder ergänzt. Der heuchlerische Vorwand, daß solch ein
Amt ein Ehrenamt sei, das ohne Entgelt bekleidet werden müsse, ist null und
nichtig. Das "Ehrenamt" bedeutet das durch nichts begründete Vorrecht des
Geldsacks und den Ausschluß der unangenehmen Arbeitervertreter.

Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle
der Entmündigung.

Diese Forderung richtet sich in erster Reihe gegen die Maßregeln, welche
dem Proletarier seine politischen Rechte verkürzen oder rauben, deshalb, weil er
ein Proletarier, ein Opfer der herrschenden Wirtschaftsweise ist. Die bürgerliche
Gesellschaft ist nicht zufrieden damit, dem Arbeiter Mark und Blut auszusaugen
und ihn zum Nutzen der Reichen zu einem Spielball des Kapitalismus zu machen,
es genügt ihr nicht, daß Not und Entbehrungen des Arbeiters Los sind, auf daß
die Besitzenden sich immer mehr bereichern können, sie ist nicht befriedigt dadurch,
daß er ohne seine Schuld in den Zeiten der Krisen, der Arbeitslosigkeit, der Ge-
schäftsflauheit am Hungertuche nagt. Nein, diese sittenstrenge, tugendhafte Ge-
sellschaft straft den Proletarier auch noch dafür, daß er ihr Lohnsklave ist, daß
er für sie seine Haut zu Markte trägt, sie entzieht ihm das Wahlrecht, wenn er
in seinem Elend daß kärgliche Almosen der Armenpflege hat annehmen müssen.
Es leuchtet ein, daß dieser politischen Ausbeutung, welche sich keck neben die
wirtschaftliche Auspowerung der Masse stellt, ein Ende gemacht werden muß. Jst
die bürgerliche Selbständigkeit dagegen infolge Geisteskrankheit usw. jemanden
entzogen, so fällt natürlich für den unter Vormundschaft Gestellten auch die
politische Mündigkeit fort.

II.
Direkte Gesetzgebung durch das Volk.

Die politisch mündigen Bürger eines Gemeinwesens, in welchem daß öffent-
liche Leben kräftig sich regt, können sich jedoch nicht damit begnügen, einer Kör-
perschaft die Gesetzgebung zu übertragen, ohne sich die Mittel der Aufsicht, der
Prüfung und der Berichtigung zu sichern. Es reicht nicht aus, daß die Wahl-
perioden kurz befristet sind. Diejenigen, für welche die Gesetze geschaffen werden,
diejenigen, welche an ihrem Leibe die Wirkungen der Parlamentsbeschlüsse er-
fahren und mit ihrem Gut und Blut dafür einzustehen haben, diejenigen, auf
deren Schultern die öffentlichen Lasten ruhen, die breiten Massen des Volkes
müssen zu Wort kommen, sie müssen ihre Ansicht zum Ausdruck und zur Geltung

betrages sich gründet, ihren Mitgliedern Taggelder zahlen? So daß die in
ihrer erdrückenden Mehrheit den besitzenden Schichten angehörenden Abgeordneten
Entschädigungen für ihren Zeitverlust und ihre Auslagen erhalten, sie, die als
Großgrundbesitzer, hohe Beamte, Fabrikanten, Großhändler es doch wahrlich
nicht nötig hätten. Die preußischen Landtagsabgeordneten z. B. erhalten für
den Tag 15 Mk. Die Mitglieder der zweiten Kammern und der Landtage mit
Einkommeneinrichtung erhalten in allen deutschen Staaten Diäten, ebenso die
Mitglieder der Provinziallandtage, Kreistage usw. Ja, während der Reichstag
diätenlos bleibt, erhalten die Bevollmächtigten des Bundesrats, welcher mit dem
Reichstage gemeinsam die Gesetzgebung ausübt, durchgängig hoch besoldete Be-
amte, für ihre Mühewaltung von den durch sie vertretenen Staaten eine reich-
liche Entschädigung. Was dem einen recht, ist dem anderen billig. Die Beauf-
tragten der deutschen Wählerschaft sollen in der Lage sein, ihre Pflichten zu er-
füllen, was für die unbemittelten Reichsboten nur möglich ist, wenn sie durch
Gewährung von Taggeldern in den Stand gesetzt sind, ohne schwere Einbuße
zu erleiden, in Berlin mitzuraten und mitzutaten. Es versteht sich am Rande,
daß das eben Ausgeführte für alle gesetzgebenden Körperschaften gilt. Der
Grundsatz des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts wird durch das Recht der
Gewählten auf Taggelder ergänzt. Der heuchlerische Vorwand, daß solch ein
Amt ein Ehrenamt sei, das ohne Entgelt bekleidet werden müsse, ist null und
nichtig. Das „Ehrenamt“ bedeutet das durch nichts begründete Vorrecht des
Geldsacks und den Ausschluß der unangenehmen Arbeitervertreter.

Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle
der Entmündigung.

Diese Forderung richtet sich in erster Reihe gegen die Maßregeln, welche
dem Proletarier seine politischen Rechte verkürzen oder rauben, deshalb, weil er
ein Proletarier, ein Opfer der herrschenden Wirtschaftsweise ist. Die bürgerliche
Gesellschaft ist nicht zufrieden damit, dem Arbeiter Mark und Blut auszusaugen
und ihn zum Nutzen der Reichen zu einem Spielball des Kapitalismus zu machen,
es genügt ihr nicht, daß Not und Entbehrungen des Arbeiters Los sind, auf daß
die Besitzenden sich immer mehr bereichern können, sie ist nicht befriedigt dadurch,
daß er ohne seine Schuld in den Zeiten der Krisen, der Arbeitslosigkeit, der Ge-
schäftsflauheit am Hungertuche nagt. Nein, diese sittenstrenge, tugendhafte Ge-
sellschaft straft den Proletarier auch noch dafür, daß er ihr Lohnsklave ist, daß
er für sie seine Haut zu Markte trägt, sie entzieht ihm das Wahlrecht, wenn er
in seinem Elend daß kärgliche Almosen der Armenpflege hat annehmen müssen.
Es leuchtet ein, daß dieser politischen Ausbeutung, welche sich keck neben die
wirtschaftliche Auspowerung der Masse stellt, ein Ende gemacht werden muß. Jst
die bürgerliche Selbständigkeit dagegen infolge Geisteskrankheit usw. jemanden
entzogen, so fällt natürlich für den unter Vormundschaft Gestellten auch die
politische Mündigkeit fort.

II.
Direkte Gesetzgebung durch das Volk.

Die politisch mündigen Bürger eines Gemeinwesens, in welchem daß öffent-
liche Leben kräftig sich regt, können sich jedoch nicht damit begnügen, einer Kör-
perschaft die Gesetzgebung zu übertragen, ohne sich die Mittel der Aufsicht, der
Prüfung und der Berichtigung zu sichern. Es reicht nicht aus, daß die Wahl-
perioden kurz befristet sind. Diejenigen, für welche die Gesetze geschaffen werden,
diejenigen, welche an ihrem Leibe die Wirkungen der Parlamentsbeschlüsse er-
fahren und mit ihrem Gut und Blut dafür einzustehen haben, diejenigen, auf
deren Schultern die öffentlichen Lasten ruhen, die breiten Massen des Volkes
müssen zu Wort kommen, sie müssen ihre Ansicht zum Ausdruck und zur Geltung

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[34/0036] betrages sich gründet, ihren Mitgliedern Taggelder zahlen? So daß die in ihrer erdrückenden Mehrheit den besitzenden Schichten angehörenden Abgeordneten Entschädigungen für ihren Zeitverlust und ihre Auslagen erhalten, sie, die als Großgrundbesitzer, hohe Beamte, Fabrikanten, Großhändler es doch wahrlich nicht nötig hätten. Die preußischen Landtagsabgeordneten z. B. erhalten für den Tag 15 Mk. Die Mitglieder der zweiten Kammern und der Landtage mit Einkommeneinrichtung erhalten in allen deutschen Staaten Diäten, ebenso die Mitglieder der Provinziallandtage, Kreistage usw. Ja, während der Reichstag diätenlos bleibt, erhalten die Bevollmächtigten des Bundesrats, welcher mit dem Reichstage gemeinsam die Gesetzgebung ausübt, durchgängig hoch besoldete Be- amte, für ihre Mühewaltung von den durch sie vertretenen Staaten eine reich- liche Entschädigung. Was dem einen recht, ist dem anderen billig. Die Beauf- tragten der deutschen Wählerschaft sollen in der Lage sein, ihre Pflichten zu er- füllen, was für die unbemittelten Reichsboten nur möglich ist, wenn sie durch Gewährung von Taggeldern in den Stand gesetzt sind, ohne schwere Einbuße zu erleiden, in Berlin mitzuraten und mitzutaten. Es versteht sich am Rande, daß das eben Ausgeführte für alle gesetzgebenden Körperschaften gilt. Der Grundsatz des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts wird durch das Recht der Gewählten auf Taggelder ergänzt. Der heuchlerische Vorwand, daß solch ein Amt ein Ehrenamt sei, das ohne Entgelt bekleidet werden müsse, ist null und nichtig. Das „Ehrenamt“ bedeutet das durch nichts begründete Vorrecht des Geldsacks und den Ausschluß der unangenehmen Arbeitervertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung. Diese Forderung richtet sich in erster Reihe gegen die Maßregeln, welche dem Proletarier seine politischen Rechte verkürzen oder rauben, deshalb, weil er ein Proletarier, ein Opfer der herrschenden Wirtschaftsweise ist. Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht zufrieden damit, dem Arbeiter Mark und Blut auszusaugen und ihn zum Nutzen der Reichen zu einem Spielball des Kapitalismus zu machen, es genügt ihr nicht, daß Not und Entbehrungen des Arbeiters Los sind, auf daß die Besitzenden sich immer mehr bereichern können, sie ist nicht befriedigt dadurch, daß er ohne seine Schuld in den Zeiten der Krisen, der Arbeitslosigkeit, der Ge- schäftsflauheit am Hungertuche nagt. Nein, diese sittenstrenge, tugendhafte Ge- sellschaft straft den Proletarier auch noch dafür, daß er ihr Lohnsklave ist, daß er für sie seine Haut zu Markte trägt, sie entzieht ihm das Wahlrecht, wenn er in seinem Elend daß kärgliche Almosen der Armenpflege hat annehmen müssen. Es leuchtet ein, daß dieser politischen Ausbeutung, welche sich keck neben die wirtschaftliche Auspowerung der Masse stellt, ein Ende gemacht werden muß. Jst die bürgerliche Selbständigkeit dagegen infolge Geisteskrankheit usw. jemanden entzogen, so fällt natürlich für den unter Vormundschaft Gestellten auch die politische Mündigkeit fort. II. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Die politisch mündigen Bürger eines Gemeinwesens, in welchem daß öffent- liche Leben kräftig sich regt, können sich jedoch nicht damit begnügen, einer Kör- perschaft die Gesetzgebung zu übertragen, ohne sich die Mittel der Aufsicht, der Prüfung und der Berichtigung zu sichern. Es reicht nicht aus, daß die Wahl- perioden kurz befristet sind. Diejenigen, für welche die Gesetze geschaffen werden, diejenigen, welche an ihrem Leibe die Wirkungen der Parlamentsbeschlüsse er- fahren und mit ihrem Gut und Blut dafür einzustehen haben, diejenigen, auf deren Schultern die öffentlichen Lasten ruhen, die breiten Massen des Volkes müssen zu Wort kommen, sie müssen ihre Ansicht zum Ausdruck und zur Geltung  

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-12-08T17:50:02Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-12-08T17:50:02Z)

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Zitationshilfe: Kautsky, Karl; Schönlank, Bruno: Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. 4. Aufl. Berlin, 1907, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kautsky_grundsaetze_1907/36>, abgerufen am 21.11.2024.