Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Erfindung sein, wenn sie nicht auf einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweise wie tief im Menschenleben jede der schönen Fabeln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet ist. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber sie ereignen sich immer wieder aufs Neue mit veränderten Umständen und in der wunderlichsten Verkleidung.

An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Aecker weithingestreckt, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Aecker, und zwar auf jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu

Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Erfindung sein, wenn sie nicht auf einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweise wie tief im Menschenleben jede der schönen Fabeln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet ist. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber sie ereignen sich immer wieder aufs Neue mit veränderten Umständen und in der wunderlichsten Verkleidung.

An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Aecker weithingestreckt, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Aecker, und zwar auf jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu

<TEI>
  <text>
    <pb facs="#f0009"/>
    <body>
      <div type="chapter" n="1">
        <p>Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Erfindung sein, wenn sie nicht auf                einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweise wie tief im Menschenleben jede der schönen                Fabeln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet ist. Die Zahl solcher                Fabeln ist mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber sie ereignen sich immer wieder                aufs Neue mit veränderten Umständen und in der wunderlichsten Verkleidung.</p><lb/>
        <p>An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt                sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in der                fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe                enthält, und über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Aecker                weithingestreckt, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen                Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Aecker, und zwar auf jedem der                beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0009] Diese Geschichte zu erzählen, würde eine müßige Erfindung sein, wenn sie nicht auf einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweise wie tief im Menschenleben jede der schönen Fabeln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet ist. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber sie ereignen sich immer wieder aufs Neue mit veränderten Umständen und in der wunderlichsten Verkleidung. An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht, erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Aecker weithingestreckt, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Aecker, und zwar auf jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:34:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:34:29Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_dorfe_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_dorfe_1910/9
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_dorfe_1910/9>, abgerufen am 21.11.2024.