Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

verehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber
einfach und durchaus praktisch, wie sie waren,
fanden sie nicht volles Genügen an der drama¬
tischen Lectüre im Schlafrock; sie wünschten diese
bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig
vor sich zu sehen und weil von einem stehenden
Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht
die Rede war, so entschlossen sie sich, wiederum
angefeuert von Lee, kurz, und spielten selbst Co¬
mödie, so gut sie konnten. Die Bühne und die
Maschinen waren freilich schneller und gründlicher
hergestellt, als die Rollen erlernt wurden, und
Mancher suchte sich über den Umfang seiner Auf¬
gabe selbst zu täuschen, indem er mit vergrößerter
Wuth Nägel einschlug und Latten entzwei sägte;
doch ist es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil
der Gewandtheit im Ausdruck und des äußeren
Anstandes, welche fast allen jenen Freunden eigen
geblieben ist, auf Rechnung solcher Uebungen ge¬
setzt werden darf. Wie sie älter wurden, ließen
sie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber sie be¬
hielten den Sinn für das Erbauliche in jeder
Beziehung getreulich bei. Würde man heut zu

verehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber
einfach und durchaus praktiſch, wie ſie waren,
fanden ſie nicht volles Genuͤgen an der drama¬
tiſchen Lectuͤre im Schlafrock; ſie wuͤnſchten dieſe
bedeutſamen Begebenheiten leibhaftig und farbig
vor ſich zu ſehen und weil von einem ſtehenden
Theater in den damaligen Schweizerſtaͤdten nicht
die Rede war, ſo entſchloſſen ſie ſich, wiederum
angefeuert von Lee, kurz, und ſpielten ſelbſt Co¬
moͤdie, ſo gut ſie konnten. Die Buͤhne und die
Maſchinen waren freilich ſchneller und gruͤndlicher
hergeſtellt, als die Rollen erlernt wurden, und
Mancher ſuchte ſich uͤber den Umfang ſeiner Auf¬
gabe ſelbſt zu taͤuſchen, indem er mit vergroͤßerter
Wuth Naͤgel einſchlug und Latten entzwei ſaͤgte;
doch iſt es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil
der Gewandtheit im Ausdruck und des aͤußeren
Anſtandes, welche faſt allen jenen Freunden eigen
geblieben iſt, auf Rechnung ſolcher Uebungen ge¬
ſetzt werden darf. Wie ſie aͤlter wurden, ließen
ſie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber ſie be¬
hielten den Sinn fuͤr das Erbauliche in jeder
Beziehung getreulich bei. Wuͤrde man heut zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0130" n="116"/>
verehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber<lb/>
einfach und durchaus prakti&#x017F;ch, wie &#x017F;ie waren,<lb/>
fanden &#x017F;ie nicht volles Genu&#x0364;gen an der drama¬<lb/>
ti&#x017F;chen Lectu&#x0364;re im Schlafrock; &#x017F;ie wu&#x0364;n&#x017F;chten die&#x017F;e<lb/>
bedeut&#x017F;amen Begebenheiten leibhaftig und farbig<lb/>
vor &#x017F;ich zu &#x017F;ehen und weil von einem &#x017F;tehenden<lb/>
Theater in den damaligen Schweizer&#x017F;ta&#x0364;dten nicht<lb/>
die Rede war, &#x017F;o ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich, wiederum<lb/>
angefeuert von Lee, kurz, und &#x017F;pielten &#x017F;elb&#x017F;t Co¬<lb/>
mo&#x0364;die, &#x017F;o gut &#x017F;ie konnten. Die Bu&#x0364;hne und die<lb/>
Ma&#x017F;chinen waren freilich &#x017F;chneller und gru&#x0364;ndlicher<lb/>
herge&#x017F;tellt, als die Rollen erlernt wurden, und<lb/>
Mancher &#x017F;uchte &#x017F;ich u&#x0364;ber den Umfang &#x017F;einer Auf¬<lb/>
gabe &#x017F;elb&#x017F;t zu ta&#x0364;u&#x017F;chen, indem er mit vergro&#x0364;ßerter<lb/>
Wuth Na&#x0364;gel ein&#x017F;chlug und Latten entzwei &#x017F;a&#x0364;gte;<lb/>
doch i&#x017F;t es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil<lb/>
der Gewandtheit im Ausdruck und des a&#x0364;ußeren<lb/>
An&#x017F;tandes, welche fa&#x017F;t allen jenen Freunden eigen<lb/>
geblieben i&#x017F;t, auf Rechnung &#x017F;olcher Uebungen ge¬<lb/>
&#x017F;etzt werden darf. Wie &#x017F;ie a&#x0364;lter wurden, ließen<lb/>
&#x017F;ie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber &#x017F;ie be¬<lb/>
hielten den Sinn fu&#x0364;r das Erbauliche in jeder<lb/>
Beziehung getreulich bei. Wu&#x0364;rde man heut zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0130] verehrer der vornehmen heutigen Welt. Aber einfach und durchaus praktiſch, wie ſie waren, fanden ſie nicht volles Genuͤgen an der drama¬ tiſchen Lectuͤre im Schlafrock; ſie wuͤnſchten dieſe bedeutſamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor ſich zu ſehen und weil von einem ſtehenden Theater in den damaligen Schweizerſtaͤdten nicht die Rede war, ſo entſchloſſen ſie ſich, wiederum angefeuert von Lee, kurz, und ſpielten ſelbſt Co¬ moͤdie, ſo gut ſie konnten. Die Buͤhne und die Maſchinen waren freilich ſchneller und gruͤndlicher hergeſtellt, als die Rollen erlernt wurden, und Mancher ſuchte ſich uͤber den Umfang ſeiner Auf¬ gabe ſelbſt zu taͤuſchen, indem er mit vergroͤßerter Wuth Naͤgel einſchlug und Latten entzwei ſaͤgte; doch iſt es nicht zu leugnen, daß ein großer Theil der Gewandtheit im Ausdruck und des aͤußeren Anſtandes, welche faſt allen jenen Freunden eigen geblieben iſt, auf Rechnung ſolcher Uebungen ge¬ ſetzt werden darf. Wie ſie aͤlter wurden, ließen ſie dergleichen Dinge wieder bleiben, aber ſie be¬ hielten den Sinn fuͤr das Erbauliche in jeder Beziehung getreulich bei. Wuͤrde man heut zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/130
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/130>, abgerufen am 21.11.2024.