Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

scheibe dieses Fensterchens fehlte seit geraumer
Zeit, so daß er durch den leeren Rahmen sein
Haupt weit in die Schulstube hineinstrecken konnte
zur sattsamen Umsicht. An diesem verhängni߬
vollen Tage nun hatte der Hausmeister gerade
während der Mittagszeit die fehlende Scheibe er¬
setzen lassen und ich schielte eben ängstlich nach
derselben, als sie mit hellem Klirren zersprang
und der umfangreiche Kopf meines Widersachers
hindurch fuhr. Die erste Bewegung in mir war
ein Aufjauchzen der herzlichsten Freude, und erst,
als ich sah, daß er übel zugerichtet war und blu¬
tete, da wurde ich betreten und es ward zum
dritten Male klar in meiner Seele und ich ver¬
stand die Worte: Und vergieb uns unsere Schul¬
den, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!
So hatte ich an diesem ersten Tage schon viel
gelernt: zwar nicht, was der Pumpernickel sei,
wohl aber, daß man in der Noth einen Gott an¬
rufen müsse, daß derselbe gerecht sei und uns zu
gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache
in uns zu tragen. Aus dem Gebote, seinen Be¬
leidigern zu vergeben, entsteht, wenn es befolgt

ſcheibe dieſes Fenſterchens fehlte ſeit geraumer
Zeit, ſo daß er durch den leeren Rahmen ſein
Haupt weit in die Schulſtube hineinſtrecken konnte
zur ſattſamen Umſicht. An dieſem verhaͤngni߬
vollen Tage nun hatte der Hausmeiſter gerade
waͤhrend der Mittagszeit die fehlende Scheibe er¬
ſetzen laſſen und ich ſchielte eben aͤngſtlich nach
derſelben, als ſie mit hellem Klirren zerſprang
und der umfangreiche Kopf meines Widerſachers
hindurch fuhr. Die erſte Bewegung in mir war
ein Aufjauchzen der herzlichſten Freude, und erſt,
als ich ſah, daß er uͤbel zugerichtet war und blu¬
tete, da wurde ich betreten und es ward zum
dritten Male klar in meiner Seele und ich ver¬
ſtand die Worte: Und vergieb uns unſere Schul¬
den, wie auch wir vergeben unſern Schuldigern!
So hatte ich an dieſem erſten Tage ſchon viel
gelernt: zwar nicht, was der Pumpernickel ſei,
wohl aber, daß man in der Noth einen Gott an¬
rufen muͤſſe, daß derſelbe gerecht ſei und uns zu
gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache
in uns zu tragen. Aus dem Gebote, ſeinen Be¬
leidigern zu vergeben, entſteht, wenn es befolgt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0154" n="140"/>
&#x017F;cheibe die&#x017F;es Fen&#x017F;terchens fehlte &#x017F;eit geraumer<lb/>
Zeit, &#x017F;o daß er durch den leeren Rahmen &#x017F;ein<lb/>
Haupt weit in die Schul&#x017F;tube hinein&#x017F;trecken konnte<lb/>
zur &#x017F;att&#x017F;amen Um&#x017F;icht. An die&#x017F;em verha&#x0364;ngni߬<lb/>
vollen Tage nun hatte der Hausmei&#x017F;ter gerade<lb/>
wa&#x0364;hrend der Mittagszeit die fehlende Scheibe er¬<lb/>
&#x017F;etzen la&#x017F;&#x017F;en und ich &#x017F;chielte eben a&#x0364;ng&#x017F;tlich nach<lb/>
der&#x017F;elben, als &#x017F;ie mit hellem Klirren zer&#x017F;prang<lb/>
und der umfangreiche Kopf meines Wider&#x017F;achers<lb/>
hindurch fuhr. Die er&#x017F;te Bewegung in mir war<lb/>
ein Aufjauchzen der herzlich&#x017F;ten Freude, und er&#x017F;t,<lb/>
als ich &#x017F;ah, daß er u&#x0364;bel zugerichtet war und blu¬<lb/>
tete, da wurde ich betreten und es ward zum<lb/>
dritten Male klar in meiner Seele und ich ver¬<lb/>
&#x017F;tand die Worte: Und vergieb uns un&#x017F;ere Schul¬<lb/>
den, wie auch wir vergeben un&#x017F;ern Schuldigern!<lb/>
So hatte ich an die&#x017F;em er&#x017F;ten Tage &#x017F;chon viel<lb/>
gelernt: zwar nicht, was der Pumpernickel &#x017F;ei,<lb/>
wohl aber, daß man in der Noth einen Gott an¬<lb/>
rufen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, daß der&#x017F;elbe gerecht &#x017F;ei und uns zu<lb/>
gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache<lb/>
in uns zu tragen. Aus dem Gebote, &#x017F;einen Be¬<lb/>
leidigern zu vergeben, ent&#x017F;teht, wenn es befolgt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0154] ſcheibe dieſes Fenſterchens fehlte ſeit geraumer Zeit, ſo daß er durch den leeren Rahmen ſein Haupt weit in die Schulſtube hineinſtrecken konnte zur ſattſamen Umſicht. An dieſem verhaͤngni߬ vollen Tage nun hatte der Hausmeiſter gerade waͤhrend der Mittagszeit die fehlende Scheibe er¬ ſetzen laſſen und ich ſchielte eben aͤngſtlich nach derſelben, als ſie mit hellem Klirren zerſprang und der umfangreiche Kopf meines Widerſachers hindurch fuhr. Die erſte Bewegung in mir war ein Aufjauchzen der herzlichſten Freude, und erſt, als ich ſah, daß er uͤbel zugerichtet war und blu¬ tete, da wurde ich betreten und es ward zum dritten Male klar in meiner Seele und ich ver¬ ſtand die Worte: Und vergieb uns unſere Schul¬ den, wie auch wir vergeben unſern Schuldigern! So hatte ich an dieſem erſten Tage ſchon viel gelernt: zwar nicht, was der Pumpernickel ſei, wohl aber, daß man in der Noth einen Gott an¬ rufen muͤſſe, daß derſelbe gerecht ſei und uns zu gleicher Zeit lehre, keinen Haß und keine Rache in uns zu tragen. Aus dem Gebote, ſeinen Be¬ leidigern zu vergeben, entſteht, wenn es befolgt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/154
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/154>, abgerufen am 21.11.2024.